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Ich bin unschuldig

Ich bin unschuldig

Titel: Ich bin unschuldig
Autoren: Sabine Durrant
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richten.
    Ich habe nicht geschrien. Ich habe überhaupt keinen Laut von mir gegeben. Ist das nicht seltsam? Aber plötzlich höre ich deutlich meine Atemzüge: Sie klingen wie Schluchzer oder Würgen. Ich keuche. Vieles, was ich nicht erwartet hätte – etwa der Gedanke an Topshop . Warum kümmert es mich, wo sie ihre Hose gekauft hat oder ob sie falsche Wimpern trägt? Die Details, die mir auffallen, die ich erfasse, kommen alle auf einmal, wie eine Flut. Ich verarbeite sie nicht, und wenn, fasse ich sie im Kopf in Worte. Ich sortiere sie. Ich denke darüber nach, wie ich es anderen Menschen sagen werde. Ich denke schon an später.
    Ich habe die Hand an den Mund gehoben, und für einen Augenblick denke ich, mir wird schlecht. In meiner Kehle ist Galle aufgestiegen, doch ich schlucke sie herunter und taumele durch das Gestrüpp raus auf den Weg. Ich fummele nach meinem Handy, das in dem Ding um meinen Hals steckt, und ich brauche mehrere Versuche, bis ich den Reißverschluss aufhabe. Viel zu schnell drücke ich die Tasten, immer wieder. Meine Finger sind zu groß; sie zittern so sehr, dass ich es beinahe fallen lasse, selbst als ich durchkomme.
    Die Stimme am anderen Ende ist ruhig und leise, so leise, dass ich andauernd wiederhole: »Können Sie mich hören? Können Sie mich hören?«
    Sie sagt, sie kann mich hören, und haspelnd bringe ich die Einzelheiten heraus. Auf den Namen der Straße kann ich mich nicht besinnen – die, die diesem Bereich des Common am nächsten ist, ziemlich in der Nähe der Straße, in der ich wohne, eine der Parallelstraßen mit denselben großen, soliden Häusern, eine bekannte Straße, aber ich sage nur: »Trinity Road, das Gefängnis, der ›Toast Rack‹. Sie wissen doch, diese rasterförmigen Straßen? Das Café dort, das Common Ground . Direkt dahinter. In dem dreieckigen Wäldchen.« Sie hat es wohl auf einem Navi oder so, denn sie scheint mehr zu wissen als ich. Sie fragt, ob es mir gut geht oder ob ich das Gefühl habe, in Gefahr zu sein. Sie sagt, ich solle mich nicht vom Fleck rühren und warten.
    Als die Verbindung getrennt wird, fühle ich mich plötzlich alles andere als gut. Ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Ich laufe zurück zu den Tennisplätzen, damit ich sehe, wenn sie kommen, und ihnen zeigen kann, wo sie hinmüssen. Niemand ist in Sicht – nur die Autos, die unablässig die Trinity Road hinter dem Kricketfeld rauf und runter fahren, in der Ferne die Dächer des Wandsworth-Gefängnisses, das Licht, das sich verändert über den großen Häusern an der Straße, deren Name – Dorlcote Road – mir jetzt wieder eingefallen ist. Ein Knarren von der Tennishütte, Dunkelheit hinter den Fenstern des kleinen Schuppens am Bowling Green, wo vor Jahren eine schmuddelige schwarz-weiße Katze lebte, die jedoch längst tot ist. Ich bin auf der anderen Seite der Bahngleise, wo ich vorhin war – ein oder zwei Kilometer Laufdistanz, aber über die Gleise nur ein paar Meter. Die Böschungen auf beiden Seiten sind steil, aber da sind Sträucher und Bäume, die ihr nasses Laub im Herbst fallen lassen und den Zugverkehr behindern, Schatten und dunkle Ecken, wo einer hocken könnte. Kinder haben in dem Gebüsch direkt unter mir Lager aufgeschlagen und Höhlen gebaut, um sich darin zu verstecken. Ein Rascheln – es könnte ein Fuchs sein oder ein Eichhörnchen oder bloß ein Vogel, doch zum ersten Mal habe ich Angst. Ich glaube, hier ist jemand, ich werde beobachtet.
    Ich schieße den Weg rauf und runter, laufe zur Straße, überlege es mir anders und renne wieder zurück. Ich bin wie eine Ratte unter stressigen Laborbedingungen. Ich kann das Mädchen nicht mehr sehen, und plötzlich habe ich das Gefühl, sie ist fort – jemand hat sie fortgebracht, oder sie war überhaupt nicht da –, und ich laufe den Weg hinunter, stolpere, strecke die Arme aus, um mein Gesicht vor den Ästen und Zweigen zu schützen, und zwänge mich durch Weißdorn, Ginster und Weißbirken – die Kratzer scheren mich nicht –, bis ich den schrecklichen Ort erreiche. Noch bevor ich dort bin, weiß ich, dass sie nicht fort ist, dass sie dort liegt, in dieser schrecklich verzerrten Position, mit diesen glasigen Augen und immer noch tot.
    Einen Augenblick ist es still. Vogelgezwitscher, das ist alles. Ein Zug kreischt. Es ist hell geworden, richtiges Tageslicht. Grüne Spitzen an den Enden der Äste in meiner Nähe. Das müssen Knospen sein. Ich komme zu spät zur Arbeit – ich muss direkt ins
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