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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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einfach.«
    Plötzlich blickten wir in das Gesicht von Mrs Johnson. Sie hatte die Arme über ihrem üppigen Busen verschränkt und sich vor uns aufgebaut. »Sollten die jungen Damen nicht lieber ihren Pflichten nachkommen?«
    Lottie beeilte sich, aber ich trottete nur langsam zum Tisch zurück.
    »Braves Mädchen.« Mrs Johnson tätschelte mir den Rücken. »Die Männer werden bald Hunger haben und du möchtest sicher nicht nur dein hübsches Gesicht vorzeigen, sondern auch ein leckeres Essen.«
    Erstaunt sah ich Mrs Johnson an, aber sie zwinkerte mir nur zu. Ihre Tochter Maria hatte weniger Geduld mit mir.
    »Lauf zum Brunnen.« Sie reichte mir zwei große Blechkrüge. Ich freute mich über die Gelegenheit, eine Weile zu verschwinden, und machte mich auf den Weg zu dem neuen Brunnen, den Clyde angelegt hatte.
    Ich ließ den Eimer in den Brunnen hinab und hörte ein Platschen. Als ich sicher war, dass der Eimer vollgelaufen war, drehte ich mit aller Kraft an der Winde, um ihn wieder nach oben zu ziehen. Der Flaschenzug war ganz schön störrisch. Jede Umdrehung kostete Kraft.
    Plötzlich hörte ich eine Stimme. »Ich helfe dir.« Jemand griff nach der Winde.
    Du warst es.
    Ich wollte weglaufen, aber ich musste schließlich die Krüge füllen. Und wie hätte es ausgesehen, wenn ich einfach davongelaufen wäre? Ich zögerte. Meine Hände umfassten noch den hölzernen Griff der Winde. Du lächeltest mich an.
    »Komm, wir machen es gemeinsam«, schlugst du vor. Deine Hände lagen auf meinen, während du die Winde mühelos in Gang setztest. Meine Arme folgten deinen Bewegungen, ohne einen Zweck zu erfüllen. Bestimmt waren meine Wangen inzwischen kirschrot. Du warst schon beinahe ein Mann. Das war ganz plötzlich geschehen.
    Du hast den Eimer hochgezogen und die Krüge mit Wasser gefüllt. Dann hast du den Becher gefüllt, der am Rand des Krugs befestigt war, und mir das kühle Wasser angeboten. Ich sah dein jungenhaftes Lächeln, aber dein Gesicht war breiter und kantiger als früher. Ich war so nervös, dass meine Arme zitterten. Du nahmst einen der Krüge. Gemeinsam gingen wir zum Büffet zurück.
    »Du bist gewachsen, Marienkäfer.«
    »Das sagt meine Mutter auch«, brachte ich heraus. »Sie musste mir ein neues Kleid anpassen.«
    Vor Scham wäre ich am liebsten gestorben. Dass ich vor einem jungen Mann – und noch schlimmer, vor dir! – über den Sitz meines Kleides sprach! Ich stammelte weiter: »Ich … musste viel davon selbst nähen.«
    Du warfst einen Blick auf mein graues Kleid, dann auf mich. »Das scheint dir gut gelungen zu sein.« Wir stellten die Krüge auf den Tisch. Maria Johnson bemerkte dich und drehte die Bänder ihrer Haube zwischen den Fingern hin und her.
    »Abendessen gibt es erst in einer Stunde, Mr Whiting. Sie müssen also später wiederkommen«, sagte sie. »Bestimmt haben Sie durch all die Arbeit schon großen Appetit.«
    Dein Blick ruhte auf Marias dunklen Locken, die unter ihrer gestärkten weißen Haube hervorblitzten. Dann hobst du die Hand zum Gruß und gingst wieder hinüber zu den Arbeitern. Maria und Eunice blickten dir nach. Ich atmete aus und lehnte mich gegen die raue Wand des neuen Hauses von Familie Aldrus. Lottie sah mich an und lächelte. Ich seufzte erleichtert.
    Denn nun wusste ich, dass du nicht ihr Verehrer warst.
    Das war unser letztes Gespräch und das letzte Mal, dass ich Lottie lächeln sah.
    VIII
    An den Ahornbäumen sind die ersten roten Blätter zu sehen. Die Morgenluft ist kühl.
    Ich sitze hoch oben in den Zweigen der Weide und sehe den Streifenhörnchen bei ihrer harten Arbeit zu. Auf einem Ast direkt über mir sitzt ein Eichhörnchen und schimpft mich aus. Es zeigt die Zähne und hält inne, als erwarte es eine Antwort.
    Goldenes Licht fällt zwischen den blassen Blättern hindurch. Noch in den kleinsten schönen Dingen sehe ich dich.
    Du hast das Gesicht deiner Mutter. Die Stärke deines Vaters, aber das Gesicht deiner Mutter in einer männlichen, dunkleren Version.
    Ich erinnere mich an sie. Sie war so hübsch, dass selbst junge Mädchen eifersüchtig waren. So freundlich, dass ältere Frauen sie dafür rügten. So einsam, dass sie sich von dem dunkelhaarigen Reisenden verführen ließ, den deine Familie für zwei Wochen beherbergt hatte. Sie ging mit ihm nach Westen.
    Reverend Frye predigte danach ein halbes Jahr lang über das siebte Gebot.
    Auch Reverend Frye hatte ein Auge auf sie geworfen.
    IX
    Du vermisst deine Mutter. Ihr Verlust machte dich über
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