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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht
Autoren: J Berry
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konnten, blickten mich an, als sähen sie mich zu ersten Mal. Sie lächelte beinahe. Sie nickte beinahe. Dann drehte sie sich um und ging weiter. Sie ließ Leon einfach stehen. Er konnte nun nach Hause gehen und sich den Kopf waschen.
    XXIV
    Mir fiel auf, wie leicht ich Leon hätte verfehlen und stattdessen Maria treffen können.
    Und ich fragte mich, ob das nicht besser gewesen wäre.
    XXV
    Tobias Salt, der sommersprossige Sohn des Müllers, kehrt von einer langen Nachtwache ins Dorf zurück. Seine Augen sind aufgequollen. Er geht langsam.
    »Hast du was gesehen, Toby?«, ruft Abe Duddy aus seinem Laden.
    »Noch nie.« Tobias reibt sich die Augen.
    »Dann hast du gut Wache gehalten«, antwortet der alte Ladenbesitzer.
    XXVI
    Wie viel du jetzt zu tun hast. Die Ernte und eine Hochzeit. Du hast ein neues Zimmer an deine Hütte gebaut, um deiner Braut eine Freude zu machen. Du musst Holz schlagen und Feuerholz für den Winter hacken. Du musst Mais und Kartoffeln ernten. Wäre doch nur jemand da, um dir zu helfen. Du hast keinen Vater, keine Verwandten und deine Freunde sind mit ihren eigenen Ernten beschäftigt.
    Du musst Steine sammeln und Gemüse einmachen.
    Du arbeitest wie ein Stier und pfeifst sogar dabei. Bald schon wirst du eine Frau haben, die dir hilft, das Nest wärmt, sich um den Garten kümmert, deine Hosen flickt, die Matratze stopft und jeden Abend ein warmes Essen für dich bereit hält.
    Wird sie all das tun? Wird sie mit ihren sanften Händen deine Wolle spinnen, deinen Weizen binden und deine Kartoffeln putzen? Wird ihr porzellanblasses Gesicht in der Sonne braun werden, wenn sie Seite an Seite mit dir die Feldarbeit verrichtet?
    XXVII
    Niemand nennt mich bei meinem Namen. Niemand nennt mich irgendwie. Außer Darrel, der nennt mich Wurm. Mutter hat nie richtig versucht, ihn davon abzubringen. Wenn sie mich ruft, heißt es: »Du, schäl die«, »Du, web den Sack«, »Du, fette das ein«, »Du, achte auf den Talgtopf«.
    »Du. Gib Ruhe.«
    Früher waren ihre Augen warm. Jetzt sind sie eisenhart. Vater ist schon lange tot und die Tochter, an die sie sich erinnert, ist auch gestorben. Mit der Erinnerung hat sie auch den Namen begraben.
    Niemand nennt mich beim Namen.
    Jüngere Kinder kennen ihn nicht einmal.
    Ich rufe ihn mir jeden Morgen bei Sonnenaufgang in Erinnerung, damit ich ihn nicht vergesse.
    Mein Name ist Judith.
    XXVIII
    Deinen Blumenstrauß hatte ich in der Scheune kopfüber zum Trocknen aufgehängt. Ich wollte ihn haltbar machen und immer ansehen.
    Ich war fort, bevor die Blumen getrocknet waren. Als ich nach Jahren zurückkehrte, hingen sie noch immer da. Sie waren zu braunen, verdorrten Stielen geworden, von denen niemand genug Notiz nahm, um sie wegzuwerfen.
    Sie hängen immer noch dort, über und über mit Spinnweben bedeckt. Nur ich kann erkennen, dass sie einst das Sträußchen eines verliebten Mädchens waren.
    Jetzt nehme ich das Gebinde ab und werfe es hoch in den Herbsthimmel. Wie einen Brautstrauß.
    XXIX
    Am Waldrand begegnete ich einmal dem Lehrer. Ich pflückte gerade Birnen. Der Lehrer war erst seit zwei Wochen in Roswell Station, er kam von der Akademie in Newkirk. Jetzt machte er einen Spaziergang in der herbstlichen Abenddämmerung. Ich sah, wie er um die Wegbiegung kam, und versteckte mich hinter einem Baum. Aber er hatte mich gesehen und nahm den Hut ab. Ich hatte ihn Langbein getauft. Er war dünn wie eine Hacke, hatte käsige Haut und wirres Haar, das ihm in die Augen hing und das er sich ständig aus dem Gesicht strich. Das war also der Lehrer, den Darrel nun los war. Wer von beiden war jetzt wohl besser dran?
    Er sah mich an, als sei ich ein lateinisches Wort, das darauf wartete, übersetzt zu werden.
    »Guten Abend.«
    Er redete mit mir.
    Ich ließ die Birnen fallen und ging.
    Er lief mir nach. »Halt! Junge Dame! Ich bitte um Entschuldigung!« Für einen so dürren Menschen war er sehr schnell. Er fasste mich am Handgelenk. Die Berührung erstaunte und beunruhigte mich. Ich spürte, wie ich mich duckte und dazu bereit machte, jeden Moment wegzulaufen. Und doch: Es war eine warme Hand, die mich festhielt. Wenn nur du es wärst, der an einem milden Herbstabend mit mir reden wollte!
    »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er und sah auf mich hinunter. Beim Klang seiner Stimme drehte sich mir der Magen um. Er ließ mich nicht los, obwohl ich zerrte. Auf seiner hohen Stirn stand Schweiß. »Ich heiße Rupert Gillis.«
    Ich riss meine Hand aus seiner und floh.
    Ich hätte ihm
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