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Ich bin dann mal alt

Ich bin dann mal alt

Titel: Ich bin dann mal alt
Autoren: Johannes Pausch , Gert Boehm
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und musste sich mit 65 zur Ruhe setzen. Ihr kleines Atelier, in dem sie bisher ihre Stoffentwürfe gemacht hatte, löste sich auf. Übrig blieb ein großer Korb mit Stoff- und Wollresten, mit Knöpfen, Steinen, Holzstücken und Glasperlen, mit Garnen und verschiedenfarbenen Muscheln. Es war einfach zu schade, diese Dinge wegzuwerfen. Deshalb fragte sie sich: Was soll ich bloß anfangen mit all dem, was mir die Arbeit und das Leben übrig gelassen haben?
    Die meisten Menschen hätten all dies wahrscheinlich als Müll entsorgt: Ramsch, überflüssiges Zeug – weg damit! Bei Elly Lichtenberg aber verband sich mit jedem Stück, mit jedem Faden eine Geschichte, ein Gedanke, eine Erfahrung. So
etwas sammelt sich in einem langen Leben an – nicht nur in Körben, sondern auch in den Kellern und Speichern der Seele. Nicht alles ist schwierigen Lebenssituationen entsprungen. Es gab auch Glanzzeiten und Erfolge, Anfänge und Abschiede. Oft liegen in der Seelenkiste kaum spürbare Erinnerungsfetzen – Gott sei Dank bleibt nicht alles im Bewusstsein, sonst würden wir wahrscheinlich am Seelenmüll ersticken.
    Elly Lichtenberg also stand vor den Woll- und Stoffresten ihres langen Lebens und überlegte, was sie damit machen sollte. Der Container drunten auf der Straße hätte die Überbleibsel schnell geschluckt, aber doch nichts gelöst. Liebevoll ordnete sie deshalb ihren »Müllberg« nach Farben und Material. Wenigstens Ordnung wollte sie in diesem Chaos schaffen – es ging immerhin um einen Teil ihres Lebens.
    Die Arbeit fiel ihr nicht immer leicht. Da waren Wollreste, die sie an Misserfolge und Niederlagen erinnerten. Farben, die sie geliebt hatte, deretwegen jedoch mancher Stoffentwurf abgelehnt wurde. Da waren Muscheln, die sie nach einer Trennung bei einem Strandspaziergang gefunden hatte, und glitzernde Glasperlen aus der Halskette einer Freundin, die an Leukämie gestorben ist. Sie fand getrocknete Pfirsichkerne und Nüsse, die sie einmal einpflanzen wollte. Jeder einzelne Gegenstand hatte seine eigene Geschichte und Spuren im Leben hinterlassen, unmerkliche, unscheinbare, schmerzende und schöne Spuren.
    So begann Elly Lichtenberg eines Tages, in einem Holzrahmen Fäden zu spannen, miteinander zu verbinden und zu verknüpfen und sie mit den Muscheln und Knöpfen, den Nüssen und Steinchen in Beziehung zu setzen. Daraus entstand das erste ihrer Bilder, um die sich mittlerweile Kunstinteressierte und Liebhaber aus der ganzen Welt reißen.

    Und ihr Rheuma? »Ich beachte es, aber nur solange es mir guttut«, sagte sie einem Besucher, »und du wirst es nicht glauben: Manchmal gehen ungelenke Finger ihre eigenen Wege und bringen Nuancen in ein Bild, die gesunde Finger nie schaffen würden. Der Schatten der Krankheit gibt dem Bild eine unglaubliche Kraft – wie jeder Schatten auf einem Bild oder in der Seele eines Menschen.«
    Elly Lichtenberg starb mit weit über 80 auf dem Höhepunkt ihrer Karriere vor einem gerade fertig gestellten Bild. Die Müllkiste mit den Wollresten war fast leer. Und auf dem Küchentisch lag ein Zettel, den sie wohl unmittelbar vor ihrem Tod geschrieben hatte: »Es ist wieder einmal das letzte und allerschönste Bild, das ich je gemacht habe.«
    Die Unbegründbarkeit des Leidens
    Das Leben kommt, wie’s kommt – du kannst es dir nicht aussuchen. Wenn du immer wissen willst, warum, kommst du an kein Ende. Dann spekulierst du immer weiter, aber es gibt keine Antwort.
    Lindenwirtin Josefine Wagner
    Es gehört zur Realität des Lebens, dass im Alter Leid und Schmerzen häufiger auftreten als früher. Jeder verursacht oder erfährt im Laufe seines Lebens auf vielfache Weise Leid: durch schlechte Gedanken und übles Reden, durch negative Gefühle und falsches Handeln – oft auch durch Schicksalsschläge oder Krankheiten. Bei körperlichen Schmerzen kann man die Ursache meistens gleich erkennen, aber bei seelischem Leid sind die Auslöser oft nur schwer zu finden – und ganz schwierig ist es, den Sinn zu verstehen, der sich dahinter verbergen kann: Warum bin ausgerechnet ich von dieser Krankheit, von diesem Schicksalsschlag betroffen? Darauf gibt es keine wirklich überzeugende Antwort. Leid gehört zum Leben – und das Leben hat auch Schattenseiten. Es ist nicht berechenbar, viele Ereignisse sind rational nicht zu erklären. Der Mensch hat keine andere Wahl, als Leid genauso anzunehmen wie Glück – es sind zwei Seiten derselben Medaille. Dabei hilft jedoch eine Eigenschaft, die der Mensch im
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