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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin
Autoren: Anne Butterfield
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Tía Dolores’ guter Stube. Ich quetsche mich hinter den einzigen Tisch in dem kleinen Raum, in dem sich Obstkisten an der Wand stapeln, und bestelle ein bocadillo de tortilla . Tía Dolores legt auch noch ein Stück queixo aus der Vitrine auf meinen Teller und plaudert mit mir, während ich esse.
    »Der Camino«, sagt sie, »ist seit dem heiligen Jahr 1999 so populär, dass in Galicien weitere Herbergen gebaut wurden.«
    Ich höre ihr zu, doch dann nimmt ihr Kleid immer mehr meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Tía Dolores’ Kittelschürze ähnelt dem Gewand der »Pulpo- und Ribeiro-Kellnerin« gestern in Melide – das gleiche seltsame Kleidungsstück, das in meiner Kindheit alle Frauen der Familie trugen. Ich hatte damals befürchtet, mich auch so anziehen zu müssen, wenn ich erwachsen werde, doch glücklicherweise wurde ich nie erwachsen.
    Tía Dolores trippelt in ihrer unverwechselbaren Kluft hinter den Tresen, um mir einen Kaffee zu machen, und ich lehne mich gegen die Wand und schließe die Augen. Dieses Kleid … der blühende Liguster heute Morgen in einer Hecke … Eine Szene von vor fast fünfzig Jahren steigt vor meinem geistigen Auge auf und ist bald fast so real wie Tía Dolores …
    Ich bin fünf Jahre alt und spähe über das Gartentor hinüber zu den Häusern auf der anderen Straßenseite. Meine FreundinJanet trägt einen hübschen Haarreif und wirbelt in ihrem besten Kleid aufgeregt auf der Straße herum.
    »Janet! Janet!«, rufe ich. »Wo gehst du hin?«
    »Zum Erntedankfest. Willst du mit?«, fragt sie und kommt über die Straße gesprungen.
    »Was ist das, ein Erntedankfest?«, frage ich.
    »Hm, weiß auch nicht. So wie Sonntagsschule, aber was Besonderes. Nur heute. Frag deine Mama, ob du mitkommen kannst.«
    »Ich trau mich nicht. Aber wenn deine Mama meine Mama fragt, darf ich vielleicht mit.«
    Meine Mutter steht in ihrer Kittelschürze neben mir an der Ligusterhecke. Nervös lecke ich mir die Lippen und warte auf das Ergebnis unseres schlauen Plans.
    »Ja, sie darf mit, danke«, sagt meine Mutter zu Mrs Tetley, während Janet und ich einander mit hochgezogenen Augenbrauen ansehen und die Luft anhalten.
    »Aber benimm dich«, sagt meine Mutter zu mir. »Und was sagst du zu Mrs Tetley?«
    »Danke, Mrs Tetley.« Inzwischen platze ich fast vor Aufregung.
    Das Erntedankfest in der Methodistenkirche war meine erste Begegnung mit dem Christentum. Die sorgfältig arrangierten, farbenfrohen Früchte, Gemüse und Blumen verliehen der Kirche die Atmosphäre eines märchenhaften Marktes, die mich sogleich in ihren Bann zog. Ich wusste, dass es ein besonderer Anlass war, weil Janet es mir erzählt hatte, aber trotzdem üben Kirchen seitdem auf mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus.
    Zum Singen war ich zu aufgeregt, doch ich hielt stolz das Gesangbuch in der Hand und lauschte der Gemeinde, die Gott für den Schnee im Winter dankte und für die Wärme, die das Korn reifen lässt. Anschließend rannte ich nach Hause und flehte meine Mutter an, von nun an zur Sonntagsschule gehen zu dürfen. Sie erlaubte es.
    Ich trete aus Tía Dolores’ Garten auf den Weg zwischen den wogenden Wiesen. Nachdem ich mich vergewissert habe, dassniemand in der Nähe ist, singe ich das Erntedanklied, das mich in meiner Kindheit Christin werden ließ:
    »Wir pflügen, und wir streuen den Samen auf das Land,
    doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand,
    er tut mit leisem Wehen sich still und heimlich auf.
    La la-la la la la-la …«
    Wann werde ich endlich alle Zeilen eines Liedes im Kopf haben? Aber den Refrain kenne ich genau, und so singe ich begeistert weiter.
    »Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn,
    drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt und hofft auf ihn.«
    Auf einen hölzernen Pfeil, der in einen Birkenwald und nach Santiago weist, hat jemand mit Kreide gekritzelt: »Danke für die Erinnerung! Ich hatte es fast vergessen.« So ging es mir auch. Aber das ist nicht meine Schuld. Die wichtigste Lektion des Camino ist seit heute Morgen unbemerkt in mir gekeimt und setzt jetzt Frucht an. Der Camino ist ein Weg, der die Pilger zurückführt zu jenen ewigen Werten, die wir schon unser Leben lang kennen. Zu jenen Werten, die, mit den Worten des englischen Philosophen Alain de Botton, das sind, was »wir wissen müssten, aber in entscheidenden Momenten zu vergessen schaffen«. Diese gemeinsamen Prinzipien gibt es nicht nur im Christentum, aber ich habe sie hier wiederentdeckt, auf dem Camino, auf
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