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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin
Autoren: Anne Butterfield
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Schlussfolgerung zu kommen? Sieht fast so aus. Doch, wie Goethe sagte: »Alles Gescheite ist schon einmal gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.«
    Im Unterschied zu den verschiedenen Philosophien des Lebens jedoch weist der Camino seine Anhänger nicht an, bestimmte Tugenden zu kultivieren, sondern er stellt sie ihnen vielmehr tagtäglich vor Augen und gibt ihnen Gelegenheit, sie unmittelbar zu praktizieren. Wir haben das Glück, die Freundlichkeit anderer zu erleben. Wir erfahren, wie gut ihr positives Handeln tut. Wir wissen, dass uns immer jemand helfen wird, wenn wir der Hilfe bedürfen. Allerdings wird es für uns eine große Herausforderung sein, auch nach dem Camino tugendhaft zu leben.
    Als Pilger vollbringen wir täglich körperliche Höchstleistungen und schöpfen tief aus unserem geistigen Vermögen. Wir können es uns nicht leisten, diese Disziplin zu vernachlässigen, wenn wir Santiago erreichen wollen. Daheim Pilger zu bleiben heißt, genauso diszipliniert zu bleiben, wie ich es hier habe sein müssen. Zu viele despistes werde ich mir auch dort nicht erlauben können.
    Weiter unten an der Hauptstraße wirbt ein Schild für »Queixos« anstelle der spanischen »Quesos« (Käse). Wir sind in Galicien, und der Pfad bringt uns ganz sacht, damit wir ja keine Bruchlandung erleiden, auf den Boden der Tatsachen zurück. Die steilen Anstiege der montes von Astorga bis Manjarín und von Ruitelán bis zum Alto de Poio liegen hinter uns. Die zwei kleinen Hügel hinter Sarria und Pontecampaña bemerkt der anviel größere Herausforderungen gewöhnte Pilger kaum. Von Pontecampaña an verläuft der Pfad fast eben auf einer Höhe von vierhundert Metern über dem Meeresspiegel. Mühelos bewegen wir uns heute entlang der Calle de los Dolores, der Straße der Schmerzen, auf Arca O Pino zu, fort von Arzúa.
    Ich werde von einer Gruppe Radfahrer, die mich auf der schmalen, gewundenen Straße zwischen den Maisfeldern überholen, fast in eine Brombeerhecke geschubst.
    » España! Weltmeister!«, rufen die Radler denjenigen wandernden Pilgern zu, deren Rucksäcke die spanische Flagge ziert.
    »Und wir? Die Engländer? Was sind wir?«, brülle ich.
    »Nada! Ihr seid nichts!«, brüllen sie zurück.
    »Ha, das stimmt! Wir sind Schrott!«
    »Kein Problem, du bist jetzt Spanierin!«
    »¡Si! ¡Soy Española ahora!« (Ich bin jetzt Spanierin!)
    »¡Buen Camino!«
    »¡Buen Camino! ¡Adiós!«
    Sie werden schon heute in Santiago ankommen, auf uns Wanderer hingegen warten hinter Arzúa noch zwanzig Kilometer bis Arca O Pino, eine beachtliche Strecke. Ein riesiger Mandelbaum, blühende Ligusterbüsche und Apfelbäume stehen in der Hecke, dann purpurfarbene Schmetterlingssträucher und Holunderbüsche. Der Mandelbaum ist das einzige Überbleibsel des alten Camino, von da an ist die Flora englischer als in England. Der Pfad führt mich durch einen Mischwald mit Eichen und Birken, den Hang zu einem plätschernden Bach hinab zieht sich Farnkraut, mein Schatten verliert sich zwischen den tanzenden Lichtflecken und flirrenden Blättern. Auf dem Pfad kann man die Stiefelabdrücke Hunderter Pilger erkennen, die auf dem Weg nach Santiago sind. Jenseits des Waldes hängt im ungepflegten Garten eines weißen Betonhauses die Wäsche einer Familie an der Leine. Darunter stehen das Sommerzelt eines Kindes, eine Rutsche und ein Planschbecken, das allerdings nicht mit Wasser gefüllt ist, sondern mit Spielzeug.
    »Also wirklich!«, höre ich im Geiste Christina sagen. »Das hier ist der Camino! Die sollten ihren Garten besser in Ordnung halten!«
    »Aber wir wohnen hier!«, höre ich die Kinder zurückgeben.
    Die Pilger, die vor mir das nächste Waldstück erreichen, wohnen ganz bestimmt nicht hier. Als ich sie fast eingeholt habe, gehe ich langsamer, um den Strauß näher zu begutachten, den die Frau in der Hand hält. Die Pilger beten fast unhörbar leise. Sie tun gut daran, denn der Strauß besteht aus Giftpflanzen, Fingerhut und Farn. Ausnahmsweise einmal halte ich es mit dem vorsichtigen von Vach – dieses heikle florale Arrangement würde ich nur mit Astronautenhandschuhen anfassen.
    Ich überhole »die betenden Botaniker« und schlendere weiter zum nächsten Dorf, A Calle, wo hinter einer Mauer auf einem Kiesplatz das steinerne Haus von Tía (Tante) Dolores steht. Die roten Plastiktische unter den Platanen und die Werbung für Mahon-Bier über der Tür locken mich aus dem Sonnenschein in die kühle Dunkelheit von
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