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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich
Autoren: Penny Hancock
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Ufermauer, das Rasseln und dumpfe Pochen vom alten Kohlenanleger, das Wummern von Hubschraubern. Stadtmusik nennt Jez das.
    »So ein Leben wünsche ich mir auch«, sagt er. »Musik, Wein, ein Haus an der Themse.«
    Mittlerweile bin ich auch etwas betrunken. Dieser Abend soll nie zu Ende gehen.
    »Es ist okay, Seb. Du musst nicht gehen.«
    »Jez«, sagt er.
    »Was?«
    »Ich heiße Jez, nicht Seb.«
    Es ist schon spät, als er schließlich aufsteht und beinahe hinfällt. Er hält sich am Stuhl fest.
    »Soll ich bleiben und Ihnen Gesellschaft leisten?«, lallt er, und ich erröte beinahe.
    »Ich glaube«, sage ich mit meiner Mutterstimme, »du brauchst eher etwas Schlaf.«
    Er ist schon halb weggetreten, bevor ich ihn richtig in das alte Eisenbett im Musikzimmer verfrachtet habe. Als ich ihn hinlege, fallen mir seine Socken auf. Am rechten großen Zeh ist ein Loch, und ich muss an ein Nähutensil von meiner Mutter denken, ein pilzförmiges Ding, mit dem sie abends dasaß und unsere Socken stopfte, und ich frage mich, ob es irgendwo auf der Welt wohl noch einen Stopfpilz gibt. Was für ein seltsamer Gedanke, während ich ihm die Socken von den Füßen rolle und die Arme aus seinem Kapuzenpulli ziehe.
    Ich überlege, ob ich ihm die Jeans ausziehen soll, die so locker auf seinem schmalen Becken sitzt, unter den Muskeln, die wie ein goldenes Dreieck auf die Knöpfe am Hosenschlitz zulaufen. Wenn er wach wird, hätte er es bequemer. Aber ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen, also lasse ich ihm die Hose an. Im Badezimmer fülle ich ein Glas mit Wasser und stelle es auf den Nachttisch. Wenn er früher aufwacht als erwartet, weiß er so, dass ich für ihn sorge.
    Bevor ich das Zimmer verlasse, beuge ich mich hinunter und fahre mit meiner Nase sanft an seinem Kopf entlang. Er riecht leicht nach Shampoo. Als ich an seinem Hals ankomme, nehme ich seinen eigenen männlichen Duft nach Zedern und Salz wahr. In einem Ohrläppchen trägt er ein kleines, schwarzes Horn. Seine Haare ergießen sich in Locken auf sein Schlüsselbein. Ich streiche sie sanft zurück, damit ich die Nase gegen die weiche, blasse Stelle hinter seinem Ohr drücken kann. Dort halte ich inne.
    Auf dem Hals unter dem Haaransatz prangt unverkennbar ein kleiner Bluterguss. Ein Knutschfleck, würde Kit sagen. Von der dunklen Mitte breiten sich blutige Einsprengsel aus. Alicia? Sie hat sein Fleisch in ihren Mund gesogen, bis die Kapillaren platzten und bluteten. Eine rote Wunde unter seiner makellosen Haut. Und plötzlich starre ich auf eine rot verfärbte Kerbe von einem Seil, das seine Zähne in eine andere milchweiße Kehle gegraben hat. Minutenlang kann ich den Blick nicht abwenden.
    Schließlich beuge ich mich tiefer und drücke einen sanften Kuss auf den blutunterlaufenen Fleck. »Alles ist gut«, flüstere ich. »Ich beschütze dich, das verspreche ich dir.«
    Dann decke ich ihn zu, stecke das Oberbett an der Seite leicht fest und gehe leise hinaus.

K APITEL Z WEI
    Samstag
    Sonia
    Wenn man an der Themse wohnt, gewöhnt man sich an ihre Geräusche und Geheimnisse. An die Rettungsboote, die beim Herauf- und Herunterrasen Kielwasserspuren durch den Fluss ziehen. Man gewöhnt sich an die Leichen, die aus seiner Tiefe gezogen werden. Daran, dass er immer in eine Richtung fließt, ohne Wiederkehr, obwohl er sich an jedem Tag zweimal füllt und leert. Verlässt man den Fluss, ist man abgeschnitten vom Wesen der Dinge.
    Mit Greg und Kit auf dem Land zu leben war verlorene Zeit. Ich habe mich nach der Stadt gesehnt, nach ihrem Schmutz und der Anonymität. Fern von London bin ich nachts oft wach geworden und war überzeugt davon, der Fluss wäre immer noch ganz nah. Selbst nach vielen Jahren dort hat es immer eine Weile gedauert, bis ich mich zurechtgefunden hatte. Bis mir klar wurde, dass ich eine erwachsene Frau mit Mann und Kind war und die Stadt weit weg war. Dann ruckte die Realität an ihren Platz, und unendliche Traurigkeit überkam mich.
    Als wir vor fünf Jahren in das Flusshaus zurückgekehrt sind, waren die Möbel mit Staublaken abgedeckt. Meine Mutter legt Wert darauf, Dinge zu erhalten. Ihre Sommerkleidung bewahrt sie im Winter in Koffern auf, sauber zusammengelegt zwischen Schichten aus Seidenpapier. Von ihr habe ich auch die Tradition übernommen, Marmelade zu kochen und Früchte einzulegen. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass die Laken weniger ihre Möbel vor dem Staub schützen sollten, als vielmehr ihren unterschwelligen Widerwillen zeigten,
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