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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich
Autoren: Penny Hancock
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mir das Haus zu überlassen.
    Es war wie ein Segen, dass ich nach dem Willen meines Vaters das Haus erbte. Doch jeder Segen hat seinen Preis. Meine Mutter braucht mich jetzt in ihrer Nähe, um ihr etwas zu holen und zu tragen, um zuzuhören und Geduld zu haben. Aber in ihrem Haus wollte sie mich nie haben, woran sie mich geflissentlich immer wieder erinnert.
    Am nächsten Morgen wache ich auf, bevor es richtig hell geworden ist. Vom Fluss tönt das Putt Putt Putt einer Barkasse herüber. Ich würde gerne liegen bleiben und dieses Gefühl genießen. Eine Art Erfülltsein. Ein Vollständigsein. Wie in der Nacht, nachdem du ein Kind zur Welt gebracht hast, und du es einfach nur ansiehst. Wie der Augenblick, wenn ihr beide erkennt, dass ihr das Gleiche füreinander empfindet. Nur noch kostbarer dadurch, dass du jetzt weißt, wie selten solche Momente sind.
    Auf dem Fußweg erklingen Schritte, als die ersten Standinhaber zum Markt eilen. Weiches, graues Licht sickert um die Ränder der Vorhänge. Ich gehe zum Fenster und ziehe sie zurück. In Canary Wharf ragen die Häuser blass in die Höhe, ihre Glasfassaden reflektieren den Perlmutthimmel, der über Blackwell mit der aufgehenden Sonne in einen pfirsichfarbenen Schimmer übergeht. Es ist eisig kalt draußen.
    Der Fluss verströmt einen stechenden Geruch, den durchdringenden Gestank nach öligem Matsch, der bei Ebbe herrscht. Er wird seine Beute präsentieren. Seine neue Lieferung wird offen verstreut am Ufer liegen: Kisten, Autoreifen, Fahrradräder. Das übliche Treibgut kenne ich, aber es gibt auch immer etwas Unerwartetes. Heute früh habe ich allerdings keine Zeit, Strandgut zu sammeln. Ich ziehe meinen Kimono über und sehe nach ihm.
    Sein Gesicht wirkt im Morgenlicht des Musikzimmers blasser, und für einen Sekundenbruchteil überfällt mich die Angst, ich könnte es übertrieben haben. Er hat etwas von Asthma gesagt. Ich habe mal gelesen, Alkohol könne einen Anfall auslösen. Als ich mich über ihn beuge, spüre ich erleichtert seinen Atem auf meiner Wange.
    Er rührt sich nicht, und ich hebe eine seiner Hände hoch. Betrachte die schlanken Finger mit Nägeln, die lang genug sind, um die Gitarrensaiten zu zupfen. Mit einem ist er irgendwo hängen geblieben, er ist leicht eingerissen. Rosafarbene Haut überzieht seine Fingerkuppen, wie bei einem Kind. Auf dem Handrücken wachsen keine dicken, dunklen Haare, nur ein paar filigrane Goldhärchen, die das Licht einfangen. Eine kräftige, blaue Vene zieht sich über seinen Unterarm. Ich fahre mit einem Finger darüber und beobachte, wie das Blut sich durch den Druck staut und sich anschließend wieder verteilt. Seb hatte genau die gleiche Vene, die am deutlichsten hervortrat, wenn er sich anstrengte, wenn er etwa die Fangleine packte, die er um einen Anleger geworfen hatte. Wenn er sich auf den Pfahlsteg hievte. Oder wenn er mit eisernem Griff meine Handgelenke packte.
    Ich lasse Jez’ Arm sinken und betrachte sein Gesicht. Den etwas dunkleren Hautton muss er von seinem franco-algerischen Vater geerbt haben. Das Kinn kantig, leicht vorspringend, die Bartstoppeln ganz weich, ganz flaumig, eine zarte Schicht schwarzer Stippen unter der Haut. Als ich mit den Lippen darüberstreiche, kann ich sie kaum spüren. Ich bin wieder bei Seb. Die Nase an seinem Hals vergraben rieche ich zum ersten Mal die Mischung aus Rauch und Männerschweiß. Durch sein Hemd spüre ich die Kuppen und Täler seines Körpers.
    Nachdem ich mich von ihm vollgesogen habe, muss ich weitermachen wie immer. Meine Mutter wartet wie jeden Samstagmorgen auf meinen Besuch und würde sich beschweren, wenn ich ihn ausließe. Wenn ich jetzt sofort gehe, bin ich zurück, bevor Jez aufwacht. Er schläft tief und fest, und wenn ich Teenager halbwegs kenne, wird sich daran den Großteil des Vormittags über nichts ändern. Ich sehe ihm noch kurz dabei zu, wie er sich umdreht. Dann schlüpfe ich widerwillig hinaus.
    Draußen scheint die Morgensonne hell, obwohl die Luft so kalt ist, dass sie mir beim Atmen in der Kehle brennt. Auf den Wänden am Fußweg glitzert Frost, und unter meinen Füßen spüre ich knirschendes Eis. Überreste der Flut, die letzte Nacht offenbar so hoch gestiegen ist, dass sie den Fußweg erreicht hat.
    Noch vor einer Woche lag Schnee. Durch den Zaun der Seniorenwohnanlage habe ich zufällig einen Tuff Schneeglöckchen gesehen, die in einem kleinen Kreis aus Gras wuchsen, von dem der Schnee geschmolzen war. Das strahlende Weiß ihrer
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