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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus
Autoren: Martin Wehrle
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»ohnmächtigen« Teilnehmer. Interessant war, was geschah, als man diese ­Erinnerungsübung mit anderen Versuchsteilnehmern wiederholte, sie jedoch nicht nach ihrem moralischen Urteil fragte, sondern ihnen die Gelegenheit gab, selbst zu betrügen, um ihren persön­lichen Gewinn zu erhöhen. Das Ergebnis: Diejenigen, die sich ­zuvor an eine Situation erinnert hatten, in der sie Macht über ­jemanden ausgeübt hatten, betrogen signifikant häufiger als diejenigen, die sich an eine Situation erinnert hatten, in der sie sich ausgeliefert gefühlt hatten. Das heißt das Erleben von Macht führte zu moralischer Scheinheiligkeit: Die Maßstäbe, die an das Verhalten anderer angelegt wurden, galten nicht für das eigene Verhalten. Ein ähnliches Bild zeigte sich, wenn die Teilnehmer zu verschiedenen Vergehen Stellung nehmen sollten, wie Geschwindigkeitsüberschreitungen im Straßenverkehr (siehe die Geschichte über den Vorgesetzten, der seine Flensburger Punkte seinem Mitarbeiter übertrug, Seite 179), Steuerhinterziehung und Diebstahl: Personen mit Machtgefühl verurteilten diese Vergehen bei anderen deutlich stärker, als wenn sie sich vorstellten, dass sie selbst sich diese Verfehlungen zuschulden kommen lassen könnten. Umgekehrt waren Personen, die sich als ohnmächtig erlebten, nachsichtiger mit anderen als mit sich selbst.
    Macht macht also strenger, wenn es darum geht, das Verhalten anderer zu beurteilen. Heißt das, sie macht auch weniger empathisch und mitfühlend? Ja. In einem weiteren Experiment (Van Kleef et al., 2008) wurden jeweils zwei fremde Personen gebeten, einander von einer Situation zu berichten, die sie in den letzten Jahren persönlich stark belastet hatte. Bevor sie dies taten, wurden sie gefragt, wie mächtig sie sich im Allgemeinen in sozialen Interaktionen erlebten: wie leicht es ihnen beispielsweise gelänge, andere dazu zu bringen, sich nach ihren Wünschen zu richten und ihre Vorstellungen durchzusetzen. Während sich die Teilnehmer­ anschließend in Zweiergruppen von Todesfällen, gescheiterten Beziehungen und anderen sozialen Konflikten berichteten, wurde ihre physiologische Stressreaktion gemessen. Erfasst wurde hierbei ihre respiratorische Sinusarrhythmie. Dabei handelt es sich um die atemsynchrone Schwankung der Herzfrequenz. Je höher die Herzfrequenz, umso höher das Stresserleben. Zudem wurden die Zuhörer in jeder Zweiergruppe anschließend befragt, wie belastend sie die Schilderungen der Erzähler empfunden und wie stark sie mitgefühlt hatten. Außerdem sollten sie angeben, wie sehr sie an einem freundschaftlichen Kontakt mit den Erzählern interessiert waren. Die Ergebnisse: Die Zuhörer empfanden die Schilderungen als belastend und reagierten währenddessen auch körperlich mit höherem Stress – aber nur, wenn sie sich zuvor als eher ohnmächtig in sozialen Interaktionen eingeschätzt hatten. Diejenigen Zuhörer, die sich im Umgang mit anderen als mächtig beschrieben hatten, zeigten keinerlei Stress-Reaktionen, weder im subjektiven Erleben noch physiologisch. Sie empfanden weniger Mitgefühl und zeigten weniger Interesse an einem weiteren Kontakt mit den Erzählern. Dabei gab es keine Hinweise darauf, dass sie die Emotionen der Erzähler weniger akkurat wahrgenommen hatten. Sie hatten die emotionale Verfassung der Erzähler richtig eingeschätzt, sich nur weniger davon berühren lassen. Diese Ungerührtheit blieb auch den Erzählern nicht verborgen: Mächtigen Zuhörern fühlten sich die Erzähler weniger nahe, und sie waren mit dem Gespräch insgesamt unzufriedener. Diese Ergebnisse sind insofern bemerkenswert, als es sich nur um kurze Interaktionen von wenigen Minuten zwischen fremden Personen handelte, die formal vollkommen gleichberechtigt waren.
    Auch wenn sich solche Experimente nicht unmittelbar auf die Verhältnisse in Organisationen übertragen lassen, geben sie dennoch eine Reihe von Hinweisen: Mächtige Personen fühlen sich offensichtlich berechtigt, Grenzen zu überschreiten, die sie anderen auferlegen, und sie nehmen emotional weniger Anteil, wenn andere unter Druck geraten, weil sie weniger motiviert sind, sich mit den Schwierigkeiten anderer auseinander zu setzen. Wenn sich Vorgesetzte ihren Mitarbeitern gegenüber wenig empathisch und rücksichtslos verhalten, dann mit hoher Wahrscheinlichkeit
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