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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht
Autoren: Sylvia Madsack
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großen graublauen Augen, den weichen Mund, und er dachte an den Ausdruck in ihrem Gesicht, wenn sie sich liebten und seine Hände über ihre nackte Haut glitten. Einen ähnlichen Ausdruck hatte er an ihr entdeckt, als er sie in der Zürcher Tonhalle zum ersten Mal spielen gehört hatte, er war ernst gewesen und zugleich selbstvergessen.
    Ein anderes Bild schob sich zwischen seine Erinnerungen, der Anblick der bleichen, kaum noch atmenden Geliebten auf den Stufen vor seiner Finca, die er im letzten Moment dem Tode entrissen hatte, indem er ihr von seinem Blut zu trinken gegeben hatte.
    Vampirblut, gerade weil es so mächtig war, erneuerte sich nicht in der Weise wie das Blut der Sterblichen, das wusste er inzwischen. Es gab Momente, in denen er ein schwaches Ziehen in den Gliedmaßen spürte und eine zuvor nicht gekannte Müdigkeit. Ihm war klar, dass er nicht mehr jeden Kampf bestehen würde wie in früheren Zeiten.
    Doch weder reute ihn seine Tat noch war er stolz auf sie. Er hatte in jenem Moment nicht anders handeln können, er hatte Daphne retten wollen. Und endlich konnte er das Zusammensein mit ihr fast so erleben, als wären sie einfach nur ein Mann und eine Frau, die einander liebten. Denn seitdem auch sein Blut in ihr pulsierte, wurde er nicht länger durch den quälenden Trieb beherrscht, von ihrem Blut trinken zu müssen.
    Wenn er sie jetzt begehrte, ging es ihm nur noch darum, sie als einen Teil von sich zu spüren, und um die Gewissheit, dass er zu ihr gehörte, für immer.
    Das Gesicht von Clarice tauchte vor ihm auf. Vor über zwanzig Jahren, während einer stürmischen Regennacht in London, hatte er mit Joannas Mutter ein Kind gezeugt, ein Zwittergeschöpf, aus der körperlichen Vereinigung zwischen einem Vampir und einer sterblichen Frau hervorgegangen.
    In letzter Minute hatte er sie damals verschont, diese bezaubernde junge »English Rose«, denn während er schon über ihren ausgestreckten Körper gebeugt war, bereit zur tödlichen Umarmung, hatte er gespürt, dass sie in dieser Nacht bereit war, ein Kind zu empfangen. Sein Kind. Als sie am anderen Morgen erwachte, war er schon weit fort gewesen, ohne eine Spur zu hinterlassen.
    Am Strand in der Nähe von Marbella war er dann vor einigen Wochen einem jungen Mädchen begegnet, in dem er schließlich sein eigenes Fleisch und Blut erkannt hatte.
    Wie hätte er ahnen können, ausgerechnet an dem Ort, den er als erneuten Fluchtpunkt auserwählt hatte, mit dieser so lange zurückliegenden Geschichte konfrontiert zu werden?
    Joanna hatte ihm erzählt, was geschehen war, nachdem er ihre Mutter verlassen hatte: Clarice war nach der Geburt des Kindes an die Costa del Sol gereist, hatte einen spanischen Arzt kennengelernt und ihn bald darauf geheiratet. Er hatte Joanna adoptiert und mit Clarice eine sehr glückliche Ehe geführt, bis er vor einem Jahr an einer Krebserkrankung gestorben war. Über Joannas leiblichen Vater war nie gesprochen worden.
    Behütet und auch von ihrem Stiefvater sehr geliebt, wuchs sie heran, bis sich erste Anzeichen einer übersinnlichen Begabung zeigten. Joanna besaß telekinetische Fähigkeiten. Sie konnte allein mit ihrer Gedankenkraft Gegenstände bewegen. Aber da war noch mehr. Es ging nicht nur darum, Türen zu öffnen, ohne sie berührt zu haben, oder eine welke Pflanze erneut blühen zu lassen. Eine heftige Gefühlsregung, etwa, wenn ein Mensch in ihrer Umgebung ungerecht behandelt wurde, konnte dazu führen, dass der Verursacher dieses Unrechts erkrankte. Manchmal ging auch nur die Heckscheibe eines Autos zu Bruch, wenn Joanna ihrer Wut freien Lauf ließ, dachte Stanislaw in Erinnerung an den Vorfall, von dem seine Tochter ihm am Telefon erzählt hatte.
    Joanna war zunächst sehr erschrocken über ihre außergewöhnliche Begabung gewesen, doch dann hatte sie gelernt, sich zurückzunehmen und ihre Gedanken im Zaum zu halten. Sie wusste jetzt aber, dass sie nicht war wie andere. Nach dem Abitur entschied sie sich für ein Medizinstudium. Ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten waren ihr zwar nach wie vor nicht geheuer, doch in einem Beruf, bei dem es um Heilen und Helfen ging, wären sie aus ihrer Sicht noch immer am besten eingesetzt.
    Während Stanislaw über die unergründlichen Wege des Schicksals sinnierte, glitt der »Mark II « die Europastraße E 68 entlang, die nach Bukarest führte. Der alte Jaguar hatte die Fahrt bisher ganz gut überstanden, doch jetzt begann Stanislaw sich zu fragen, ob der rumänische Zöllner nicht
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