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Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall

Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall

Titel: Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
Autoren: Felicitas Mayall
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Verantwortungsbewusstsein, empfindliches Über-Ich, Stress, dachte sie. Falls ich nicht nachschaue, werde ich den ganzen Tag daran denken und später bei Kollegen nachforschen, ob an der Isar ein Verletzter oder Toter gefunden wurde. Ich kenne mich immerhin schon seit sechsundvierzig Jahren.
    Sie schätzte die Entfernung zur Mariannenbrücke und entschloss sich, durch den Fluss zu waten. Wegen der Steine und der zerbrochenen Bierflaschen behielt sie ihre Turnschuhe an. Das Wasser war angenehm kühl, es reichte ihr an der tiefsten Stelle nur knapp über die Knie. Es floss schnell, zerrte an ihren Beinen. Sie bewegte sich langsam. Als sie das andere Ufer erreichte, ging sie um den Liegenden herum. Er zeigte nur seinen Rücken, hatte das Gesicht in den Kies gedrückt und unter einem Arm begraben. Die abgewetzte Jeansjacke war hochgerutscht und gab ein Stück gebräunter Haut frei, die Hose war auf Kniehöhe abgeschnitten und ausgefranst. Neben dem Mann lagen zwei ausgelatschte Sandalen. Sein Haar war dunkelblond, halblang und ziemlich frisch gewaschen. Vielleicht ein Penner, vielleicht auch nicht … Laura beugte sich über ihn, um zu prüfen, ob er atmete, konnte es aber nicht genau erkennen. Als sie nach seiner Schulter griff, um ihn vorsichtig zu rütteln, schlug er so unerwartet um sich, dass sie das Gleichgewicht verlor und rücklings auf die Steine fiel. Sein Schlag hatte sie quer übers Gesicht getroffen. Beinahe-Knockout.
    Sie wollte aufspringen, um sich besser verteidigen zu können, ließ es aber bleiben, als sie sein Gesicht sah. Mit weit aufgerissenen Augen und wirrem Haar hockte er vor ihr.
    «Spinnst du?», schrie sie ihn an.
    Er reagierte nicht, starrte nur. Schließlich blies er die Backen auf und schüttelte den Kopf.
    «Das kannste nich machen. Nich hier draußen! Mich hätt eben beinah der Schlag getroffen!»
    «Mich auch!» Laura betastete ihre Nase.
    «Hab ich dir wehgetan? Aber da biste selber schuld, Mädchen. So was macht man nicht hier draußen. Auf gar kein’ Fall, verstehste?» Er strich mit beiden Händen sein halblanges dickes Haar aus dem Gesicht, kratzte dann über die blonden Bartstoppeln auf seinen Wangen und verzog dabei den Mund. Einer seiner Vorderzähne fehlte. Laura schätzte ihn auf Ende dreißig, und er war eindeutig einer der «Bürger in sozialen Schwierigkeiten», wie man die Obdachlosen politisch korrekt nannte. Aber einer von denen, die sich nicht ganz aufgegeben hatten. Sie schloss es aus seiner Kleidung, dem Zustand seiner Hände und Füße, dem gewaschenen Haar.
    «Was macht man nicht?»
    «Man fasst niemand an, der am Boden liegt!» Er saß inzwischen im Schneidersitz, ließ sie aber keine Sekunde aus den Augen.
    «Und warum nicht?» Ihre Nase schien in Ordnung zu sein. Das linke Auge hatte mehr abgekriegt. Sie fühlte geradezu, wie es anschwoll.
    «Weil …» Er breitete die Arme aus und schaute sie beinahe mitleidig an. «Weil hier draußen die Menschen sehr vorsichtig sind. Es könnt ja einer sein, der was Böses vorhat, oder es könnt ein Bulle sein. Du kennst dich mit solchen Sachen nicht aus, was?»
    «Nein!» Laura rollte sich zum Ufer. Mit der hohlen Hand schöpfte sie Wasser und kühlte ihr schmerzendes Auge.
    «Isses schlimm?» Er robbte zu ihr hinüber.
    «Fass mich nicht an!», fauchte sie, als er die Hand ausstreckte. «Hier draußen fasst man niemanden an!»
    Er zog seine Hand wieder zurück.
    «Man kann schon», murmelte er. «Wenn man sich kennt. Aber nie von hinten oder wenn einer schläft.»
    «Wir kennen uns nicht!»
    Er zuckte die Achseln.
    «Jetzt schon.»
    «Wieso?»
    «Weil wir miteinander reden.» Er sah bekümmert aus.
    Auf der anderen Seite der Isar tauchten die ersten Radfahrer und Jogger auf. Jeder zweite mit Mundschutz.
    «Trink das Wasser ja nich. Da kriegste Dünnpfiff!»
    Laura antwortete nicht, stand auf und klopfte den Sand von ihrem T-Shirt und ihrer Hose.
    «Wuff. Das wird ’n schönes Veilchen!» Er grinste ein bisschen schief.
    «Hast du noch mehr so intelligente Bemerkungen auf Lager?»
    Laura verfluchte den Frosch, ihr Über-Ich und ihr Verantwortungsbewusstsein. Sie wollte nur noch nach Hause und einen Eisbeutel auf ihr Auge legen.
    «He, ich wollte das nich! Hatte ja keine Ahnung, dass du ’ne Lady bist. Hab eher damit gerechnet, dass es einer von denen is, die weiter oben saufen. Da gehste besser nich hin, das kann ich dir sagen!»
    Laura zuckte die Achseln und watete wieder in den Fluss zurück.
    «He, es tut mir echt leid.
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