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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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war nicht dieser rüde Griff, nicht die Brutalität, mit der die Männer mich in eine entfernte Ecke des Flughafens zerrten – es war das Gesicht der schönen Afrikanerin, um die Nase von Sommersprossen gesprenkelt, hellgraue Augen, darüber Brauen, die geschwungen waren wie zwei Bassschlüssel. Ich blickte nicht länger als eine Sekunde in dieses Gesicht, und im ersten Viertel dieser langen Sekunde konnte ich ihren Blick nicht deuten, ihre Augen schauten unbeteiligt wie zuvor. Im zweiten Viertel machte sich ein Lächeln breit, stolz, voller Verachtung für die Welt, was mich aufmunterte und bestärkte. Ich wollte ihr mit einem Augenaufschlag zu verstehen geben, dass sie sich keine Sorgen machen musste; selbst wenn sie mich dem Henker zuführten, sei die Verteidigung der Menschenwürde dieses Opfer zehn Mal wert.
    Doch irgendetwas missdeutete ich an diesem Blick, denn die beiden letzten Viertel dieser langen Sekunde enthüllten, wie die Frau in Wahrheit dachte. Ihre Verachtung betraf nicht die Welt, sie betraf allein mich. Und um dies zu verdeutlichen, drückte sie die Zunge an die obere Zahnreihe, erzeugte am Gaumen einen Unterdruck und ließ im selben Augenblick die Luft einströmen, worauf dieses Schnalzen ertönte, der internationale Laut der Missbilligung. Sie hielt
mich
für den Idioten, nicht etwa die Zollbeamten, die ihr abschätziges Grinsen übernommen hatten und mich anfeixten wie den letzten Dummkopf. Selbst der Entenkopf an ihrem Schirm verhöhnte mich, und dann wurde ich an den gaffenden Reisenden vorbei durch die Sicherheitsschranke gezerrt.
    Sie warfen mich in eine handtuchgroße Zelle, eine Koje, in der zwei Stühle und ein Tisch standen. Ich schwitzte vor Erregung. Nie in meinem Leben hatte ich eine größere Ungerechtigkeit erfahren. Zudem vermisste ich meinen Koffer, aber als ich mich etwas beruhigt hatte, sagte ich mir, dass sich die Sache bestimmt schnell klären werde. Ich war ja nicht irgendein Reisender, ich war ein Mitarbeiter des Außendepartments, der Direktion, ein Administrator, unterwegs in offizieller Mission. Und ich hatte Zeit, mein Anschlussflug ging erst in zwei Stunden.
    Doch es kam niemand, dem ich mich erklären konnte. Kein Beamter erschien, nicht nach einer, und auch nicht nach anderthalb Stunden. Und erst als die Minute gekommen war, da mein Flieger abheben sollte und dann natürlich weg war, entdeckte ich, dass die Tür zu meiner Zelle kein Schloss hatte. Ich drückte die Klinke, die Tür öffnete sich, und vor mir stand, wie ein treuer Hund, mein brauner Koffer. Ich trat hinaus in den Korridor, es war niemand zu sehen, und ich ging in die Richtung einer Glastür, die hinaus ins Freie führte. Da stand ich nun auf einem Dienstparkplatz am Brüsseler Flughafen, über mir zog dröhnend eine Maschine der Sabena in den Himmel, und ich fand, ich bedürfe nun der diplomatischen Fürsorge.
    Ein Taxi brachte mich zur Schweizer Vertretung. Der Botschaftsrat, ein gepflegter Mann mit großen Zähnen, die er nach jedem Satz zu einem Lächeln entblößte, nahm sich meiner an. Dies sei nicht das Ende der Welt, tröstete er mich, und auch nicht das Ende meiner Karriere. Er gab mir Geld zur Überbrückung der nächsten Tage, bis der nächste Flug nach Kigali ging, und buchte für mich ein bescheidenes Hotelzimmer. Gleich Montag früh wollte er den Kollegen in Kigali Bericht erstatten. Der Mann war so freundlich, mich mit touristischen Tipps zu versorgen, aber ich hatte keine Lust, das Atomium oder die Musées Royaux des Beaux-Arts anzusehen.
    Die Schrunden an den Oberarmen verheilten rasch, doch die Kerbe, die diese Frau in meine Seele geschlagen hatte, schmerzte lange. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, und ich hatte die Autoren der Négritude gelesen, Césaire und Senghor und wie sie alle heißen.
Roots
von Haley, über die Suche nach seinen Vorfahren, die als Sklaven aus Gambia nach Nordamerika verschleppt wurden: Dieses Buch war meine Bibel. Ich hatte die Leiden der Verschleppten miterlitten, die Knechtung, die tausendundeine Spielart der Unterdrückung. Durch die Lektüre hatte ich begriffen, weshalb man den Anfängen wehren musste und sich Zivilcourage nie auf einen passenderen Zeitpunkt verschieben ließ. Sie war
jetzt
gefordert, im Augenblick des Unrechts, und es lag nur an der Feigheit eines jeden Einzelnen, die diese Welt in weiten Teilen zu einem Schweinekübel machte. Daran glaubte ich mit jeder Faser meines Herzens, aber was waren diese Ideale wert, wenn die Schwachen sich
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