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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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wir entstammen der Zone der Dämmerung. Wir bedürfen der Übergänge, des Zwielichts, wir sind auf die Rhythmen des Lichts angewiesen, die unser Leben begleiten, einmal mit fahlem Sonnenschein zu Beginn des Herbstes, ein andermal mit harten Schatten wie im April. In unseren Breiten kann man nie mit letzter Sicherheit sagen, ob zu einer bestimmten Stunde noch Morgen oder vielleicht schon Mittag ist. Wann beginnt die Nacht, und wann endet sie? Wir bewegen uns im Ungefähren, aber dort, zwei Breitengrade südlich des Äquators, gewährt die Sonne keinen Spielraum. Die Nacht fällt wie ein Fallbeil, ohne Dämmerung, bloß ein kaum merkliches Torkeln der Sonne kündigt das Ende des Tages an. Die Natur dreht den Schalter um, kein Moment wird gestundet, und kein Zwielicht gestattet, dass du auch nur eine Minute schindest. Vom ersten Augenblick an herrscht eine vollkommene, diskussionslose Dunkelheit, und das ist es, was Europäer zermürbt. Mir kam es manchmal vor, als läge ich im Innern der Erde, als säße ich in einem stinkenden Ungeheuer, das dann und wann einen Rülpser von sich gab, mit lautem Furz Verdauungsgase abließ, die all den verschlungenen Leichen entstiegen. Der nächtliche Kriegslärm kümmerte mich nicht, im Gegenteil, er war mir vertraut, schließlich sind wir damit aufgewachsen, nicht wahr, sagt David und steht auf. Und ich erinnere mich an die endlosen Panzerkolonnen, die auf der Landstraße in die Berge fuhren, an das Donnern der Haubitzen, das Knattern der Maschinengewehre vom Übungsplatz. Wenn man wie David und ich in einer Garnisonstadt aufwächst, besorgt man sich sein Spielzeug im Zeughaus – die Funkerbatterien mit einer Spannung von hundertundzwei Volt, von denen wir immer zwei mit Isolierband zusammenklebten und in die Elritzenschwärme warfen. Einen Moment lang trieben sie bäuchlings, wir schöpften sie aus dem Wasser und warfen sie an Land, wo sie wieder zu sich kamen, hilflos zuckend, bis Kiesel an ihren silbrigen Bäuchen klebten. Wir wussten nie, was wir mit dem Fang anstellen sollten, die Elritzen waren zu klein, man konnte sie nicht essen. Manchmal machten wir uns mit den Taschenmessern an ihnen zu schaffen, drückten auf ihnen herum, bis die Därme aus dem Leib spritzten, manchmal, großherzig, warfen wir sie zurück in den See.
    Er steht auf, dreht eine Herdplatte an, auf der ein Topf steht, und während er wartet, bis das Essen warm ist, trägt er Teller und Besteck auf. Die kleine, vom Fett gelbe Lampe am Dampfabzug ist das einzige Licht im Raum, und draußen wird die Welt nun blau, während es weiter schneit und ein weißes Vlies das Fensterbrett bedeckt. David schöpft mit einer Suppenkelle, und ich sehe, es sind Kutteln, die er auftischt, fertig zubereitet beim Metzger gekauft, die besten Kutteln, die er je gegessen habe, wie er beteuert, bevor er herzhaft zugreift, mit einem beinahe unanständigen Appetit seine Portion verschlingt. Ich hätte erwartet, dass er nach allem, was er erlebt hat, vegetarisch leben würde, er aber isst nicht nur Fleisch, er isst sogar Innereien, Kuhmagen, und ich frage mich, ob er mir damit etwas zu verstehen geben will, über seine Konstitution vielleicht, seine Unversehrtheit, dass ihn die ganze Sache, so schrecklich sie auch gewesen sein mag, nicht daran hindert, Eingeweide an einer roten Soße zu essen.
    Nein, fährt David fort, nachdem er sich den Mund abgewischt hat, der Kriegslärm hat mich nicht gekümmert, übel war einzig das Geschrei der Milizen. Von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang dröhnte ihr Grölen von der Avenue des Grands Lacs, wo sie eine Straßensperre errichtet hatten, dazu die stupiden Melodien Simon Bikindis, zu deren ewig gleichen Rhythmen sie ihr Handwerk verrichteten, solange die Sonne ihnen Licht gab. Denn kaum wurde es dunkel, flohen sie in ihre Häuser und überließen die Straßen den regulären Truppen. Die Mörder fürchteten sich vor der Dunkelheit – das war der feine Humor, den Kigali in jenen Tagen zu bieten hatte.
    In der ersten Zeit hielt ich tagsüber die Läden geschlossen, aber dann teilte mir Théoneste mit, dass die Milizen längst über den Umuzungu Bescheid wüssten, der in Haus Amsar festsitze. Er habe ihnen gesagt, dass ich Schweizer und also auf ihrer Seite sei. Wäre ich Belgier gewesen, sie hätten mich ohne viel Federlesen totgeschlagen, aber diese Mörder, die jeden umbrachten, der in seiner Identitätskarte unter
Ubwoko
die falschen drei Einträge gestrichen hatte, hielten mich für einen
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