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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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nicht helfen lassen wollten und die Hand zurückwiesen, die ich ihnen reichte?
    In meinem Hotelzimmer, das ich während der folgenden Woche nur verließ, um im Restaurant an der Ecke eine hastige Mahlzeit zu verzehren, zerbrach ich mir den Kopf über meine Zukunft, und ich weiß noch, wie ich am ersten Abend ein Bad einließ, um mir die erlittene Schande vom Leib zu waschen. Es würde wohl das Beste sein, diese Afrikaner in ihrer Scheiße sitzen zu lassen, stattdessen Menschen zu suchen, die meinen Einsatz zu schätzen wussten. In Osteuropa brachen zu jener Zeit die Imperien wie Kartenhäuser zusammen, und weshalb? Weil die Menschen aufbegehrten. Weil sie nicht still waren. Wer sich nicht gegen das Unrecht erhebt, der hat dieses Unrecht verdient, das war meine Überzeugung, derer ich mich immer wieder versicherte, denn in meinem Kopf dröhnte dieses höhnische Schnalzen. Das erstbeste aufgetakelte Fräulein hatte meine Ideale gemeuchelt. Was hätte diese Frau ein Zeichen gekostet, eine winzige Geste der Wertschätzung? Im Moment, als jemand schwächer war als sie, hatte sie sich auf die Seite der Starken geworfen, auf die Seite der Unterdrücker. Ihretwegen saß ich in einer mir feindlich gesinnten Stadt, einer verkommenen, fetttriefenden Ansammlung vergammelter Häuser, in einem lausigen Hotelzimmer, einer zu kurzen, kalkfleckigen Badewanne. Ich tröstete mich, indem ich mir einredete, dass sie überhaupt keine Afrikanerin sei. Keine richtige. Bestimmt war sie von irgendwelchen Innenarchitekten adoptiert worden, die sich ein schokoladenbraunes Baby ins Interieur stellen wollten. Ihr war das fehlende soziale Bewusstsein nicht vorzuwerfen; sie verleugnete ihre Herkunft wie jeder Paria, der zum Parvenü geworden ist, und im Moment, als sie akzeptiert hatte, dass man sie Negerin nannte, war sie genau dazu geworden, zu einem Menschen, der jede Selbstachtung verloren hatte. Als ich den Stöpsel zog, sah ich ihr Gesicht vor mir, ein unglückseligerweise schönes Gesicht, und in Gedanken schimpfte ich sie eine Negerin, verschämt zuerst, dann deutlicher, bis meine Lippen das Wort formten, noch ohne Atem, bis ich schließlich wagte, diesem Laut eine Stimme zu geben. Negerin. Negerin. Negerin.
    David wiederholt das böse Wort wie eine Beschwörung, er beugt sich über den Tisch, bevor er sich wieder zurücklehnt, in das fahle, immer spärlicher werdende Licht des Zimmers. Er wirkt blass, farblos, eine graue Gestalt, und es fällt mir nicht schwer, ihn mir in dieser Badewanne vorzustellen, fröstelnd, alleine, gekränkt.
    Die Fußballweltmeisterschaft, die zu jener Zeit in Italien stattfand, sie hat mich gerettet, die Mannschaft der unbezwingbaren Löwen aus Kamerun, um genau zu sein. Im Auftaktspiel hatten sie Argentinien geschlagen und waren dann Gruppenerste geworden. Und kurz bevor ich abflog, warfen sie im Achtelfinale Kolumbien aus dem Turnier. In jener Woche im Brüsseler Hotelzimmer sah ich viele Spiele an, aber auf nichts wartete ich mit größerer Spannung als auf das Viertelfinale Kamerun gegen England. Die Afrikaner führten lange Zeit, und erst in der Verlängerung verloren sie durch einen läppischen Elfmeter. Ich wäre am liebsten aus dem Fenster gesprungen. Ein weiteres Mal gingen die weißen Herren als Sieger vom Platz, und den ewigen Habenichtsen blieb nur die Ehre der stolzen Verlierer. Aber gleichzeitig lag in meiner Enttäuschung auch meine Rettung, bewies sie doch meine intakten Gefühle für die richtige Seite, für die Underdogs nämlich. Ich beschloss, die Vorfälle am Flughafen auf sich beruhen zu lassen, das niederträchtige Verhalten der Frau nicht dem gesamten schwarzen Kontinent anzulasten und den Afrikanern eine zweite Chance zu geben.
    Wenn ich klug genug gewesen wäre, hätte ich die Lektion gelernt und meine Ideale und die Gründe, aus denen ich mich dieser Arbeit widmen wollte, in Zweifel gezogen. Aber ich war dumm, ich war blind, ich sah nur, was ich sehen wollte, und vor allem hatte ich die kindliche Sehnsucht, mein Leben einer Sache zu widmen, die größer war als ich selbst.
    Ein Jahr vor meiner Abreise hatten die Stürme der Weltpolitik einige Ausläufer in unser Land geschickt. Es gab Demonstrationen, ich lief mit, trug Transparente und schrie Parolen, aber schon einige Wochen darauf erlahmten die Proteste, und der Mehltau der bestehenden Ordnung legte sich wieder über die Zustände. Mir war mein Land über geworden, seine Kleinkrämer mit ihrem notorischen Vergessen, und das Leben war
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