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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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von vier Straßen, die Uganda im Osten mit dem Kongo und die Senken des Südens mit dem Hochland im Norden verbanden, und das war der Grund, weshalb Kigali bald zum wichtigsten Handelsplatz des Landes wurde.
    Kaufleute aus Indien und von der arabischen Halbinsel ließen sich nieder und verkauften ihre Waren. Deutsche, französische, belgische Handelshäuser errichteten Niederlassungen; ein Regiment Askari beschützte die europäischen Herren, schwarze Soldaten von der Küste des Indischen Ozeans. Während einiger Jahre sah es aus, als würde sich die Siedlung zu einer richtigen Stadt mausern, der ersten in einem Land, wo vorher nur Dörfer zu finden waren, die verstreut auf den Hügeln lagen.
    Als in Europa für die Deutschen der Krieg verloren war und die Belgier ihren Teil aus der kolonialen Konkursmasse bezogen, ging es mit Kigali wieder bergab. Die neuen Herren beargwöhnten jede größere Stadt, die für sie nur Horte der Verkommenheit und Nährboden für Unruhen waren. Sie teilten und herrschten, unterstützten das alte Königshaus und den Mwami, der weit weg von Kigali residierte und durch die Entwicklung der neuen Stadt seinen Einfluss schwinden sah. Die Belgier hatten ihre eigene Hauptstadt, Astrida, das in unseren Tagen Butare heißt, und erst als die Revolution von einundsechzig die Monarchie abgesetzt, die Revolution ausgerufen und die Belgier vertrieben hatte, erlebte Kigali einen Aufschwung. Die junge Republik brauchte eine neue, den alten Herrschercliquen entzogene Hauptstadt, und man begann den Osthang des zentralen Hügels, den Nyarugenge, zu bebauen. Straße um Straße wurde asphaltiert und beleuchtet, und weil man den Armen, die von überall her in die Stadt strömten, kein Bauland zuwies, entstanden in den sumpfigen Senken spontane Siedlungen. Die schmalen Täler wurden kultiviert und versorgten die Menschen mit Maniok, Bananen, Bohnen und Kaffee. Aus den Sümpfen holten sie den Lehm, mit dem sie ihre Hütten bauten, und den Papyrus für ihre Dächer. Wirkliche Elendsviertel allerdings kannte das Land nie. Alles in allem war Kigali ein beschaulicher Flecken, die Straßen gekehrt und von Palisanderbäumen beschattet, sicherer als die meisten Städte Europas. Und deswegen schrecklich langweilig. Es gab keine öffentlichen Kinos, kein Theater, keine Konzerte, die Leute hier schienen keine Zerstreuung zu benötigen, im Gegenteil, sie mochten die ereignislosen Tage, und je weniger geschah, desto besser.
    Mir brachten nur die Samstage etwas Abwechslung. Da streunte ich durch Kyovou, das Viertel der Diplomaten und der Ministerialbeamten, umging das Zentrum und hielt mich südlich, bis ich in die Gegend der Moschee kam. Im islamischen Viertel kaufte ich in einer der Buden einen Fleischspieß, trank ein Bier dazu und überließ mich dem Treiben vor dem Stade Régional. Manchmal stieg ich auf einen der Hügel, ließ die geteerten Straßen hinter mir und schlug mich in die Felder.
    Was die Menschen ernährte, wuchs wild durcheinander: Bananenstauden neben tannengrünem Maniok, mannshohe Hirse, die sie hier Sorghum nannten, Avocadobäume zwischen vereinzelten Kaffeesträuchern, wie einst im Garten Eden. Ich mochte es, den schmalen Trampelpfaden zu folgen, die sich durch die Pflanzungen schlängelten und die einfachen, mit Mist verputzten Ziegelhütten verbanden. Eine Pflanze, die man
Miatsi
nannte, ein Gewächs mit bleistiftdicken Röhren, das man eher im Wasser vermutet hätte, umhegte die Höfe. Dann führte der Weg durch einen Hain aus Eukalyptusbäumen und Pinien, deren Nadeln wie lange Wimpern an den Ästen hingen. Blumen mit tiefvioletten Blüten bedeckten den Boden, mir kam es vor, als würde ich von tausend Katzenaugen beobachtet, und dann lösten sich auf einmal Gestalten aus den Bäumen, lautlos, schleichend, scheu, Gesichter wurden erkennbar, und ich war mit einem Male von Kindern umringt, von halbnackten Knaben in zerschlissenen Hosen, von Mädchen in schmutzstarren Hemden. Bergbewohner, die Haut gefärbt von der roten Erde, abwartend, schüchtern, doch auf ein unbekanntes Zeichen hin verloren sie ihre Furcht und stürzten sich fröhlich auf den weißen Mann, schrien
Umuzungu! Umuzungu!
, zerrten an meinen Hosen, drängten sich zwischen meine Beine. Der Lärm zog mehr Kinder an, sie tauchten im Dutzend aus den Feldern auf, und ich sah plötzlich nicht mehr Kinder, sondern Gnome oder Berggeister, und es war nicht sicher, ob sie mir wohlgesinnt waren oder mich zerreißen wollten, was ihnen ein
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