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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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einzuwenden, warum du nicht mit den anderen geflohen bist, als klar war, dass die Sache in einem Blutbad enden würde.
    Er schaut hinaus in das Schneetreiben, jede Flocke ein Gedanke, und sagt, so sicher war das für mich nicht. Und ich wollte bei Agathe bleiben, aber manchmal denke ich, es lag nur an Pauls Schuhen. Wanderschuhe, mit roten Schnürsenkeln, gewichst, mit starkem Profil, Schuhe, die einen überall hintragen, auf die höchsten Gipfel, durch die tiefsten Schluchten. All die Jahre hatte der kleine Paul stets Sandalen getragen, feste, mit dicker Sohle, aber eben doch Sandalen, die auf ihre Weise ausdrückten, wie groß sein Vertrauen in dieses Land war. Keiner hatte etwas zu befürchten, nicht einmal die Füße. Und drei Tage vor unserer Evakuierung sah man ihn plötzlich in Wanderschuhen, die ihn heil aus diesem Land bringen sollten, und ich schämte mich bei dem Gedanken, dass die ganzen Jahre für den Notfall dieses gut gewichste Paar Schuhe in seinem Haus bereitgestanden hatte. Wir taten so, als wären die Ereignisse unvorhersehbar gewesen, als wäre aus heiterem Himmel die Hölle losgebrochen, aber dieser kleine Mann da, mein direkter Vorgesetzter, hatte seine Schuhe. Er war vorbereitet. Er hat es kommen sehen. Er hat gewusst, dass Sandalen eines Tages nicht mehr genügen würden, und hat sich ein Paar Wanderschuhe bereitgestellt. Für mich war es Verrat. Die Berechnung, die in der Wahl seines Schuhwerks zum Ausdruck kam, seine Planung in diesem Chaos, das nebenbei gesagt nur aussah wie ein Chaos, aussehen sollte wie eines, in Wahrheit aber eine perfekt organisierte Hölle war, ausgedacht, vorbereitet, durchgeführt, verletzte meine Ehre. Ich wollte kein Feigling in guten Schuhen sein, und als der Augenblick gekommen war, als ich die Tür von Haus Amsar verriegelt hatte und schon fast auf dem Weg zur Botschaft war, wo sie bereits warteten, da bin ich hinters Haus gegangen, bin hinters Notstromaggregat geschlüpft und habe mich nicht geregt. Der Konvoi würde Kigali um zwölf Uhr mittags in Richtung Bujumbura verlassen. Ich musste ein paar Stunden durchhalten, sie würden nicht warten können, der Boden war zu heiß geworden. Ich habe mich mit einer Wasserflasche und einer Schachtel Käsecracker in die Nische gedrückt, und irgendwann ist jemand gekommen. Hat nach mir gerufen, und beinahe hätte mich der Bussard verraten, weil er sich auf das Aggregat setzte und aufgeregt schrie, aber ich rührte mich nicht, und nach ein paar Minuten hörte ich, wie sich die Schritte auf der gekiesten Auffahrt entfernten. Dann war ich alleine. Ist es nicht erstaunlich, wie einfach das Konzept des Versteckens ist, wie einfach und wirkungsvoll?
    Vor dem Fenster fallen die Flocken nun dichter, die dunklen Felder sind an manchen Stellen schon weiß bestäubt, wie ein Kuchen, den man noch warm mit Puderzucker bestreut. Eine elende Gegend, meint David, aber auch nicht elender als andere. Immerhin steht man sich hier nicht auf den Füßen, und antwortet damit auf eine Frage, die ich mir längst gestellt habe, warum er nämlich hierher gezogen ist, in das raue und feuchte Klima der Jurahöhen, wo die Winter hart sind und schneereich. Er sei einige Jahre durch das Land vagabundiert, hat er mir erzählt, habe nach einem Flecken gesucht, wo er in Ruhe leben könnte, aber nach ein paar Monaten sei er weitergezogen, von einem möblierten Zimmer in das nächste, und jetzt ist er hier, in einem von dunklen Tannen bestandenen Längstal, über das die kontinentalen Winde ziehen, ohne die kalte Luft aufzuwirbeln, die sich als Kältesee über das Land senkt, ein quadratkilometergroßer Eisschrank.
    Ich wartete, bis es dunkel war, und dann schlich ich ins Haus. Wir hatten die Fenster unserer Häuser mit Brettern vernagelt, und ich beließ sie fürs Erste so und machte mich daran, ein Inventar zu erstellen. Viel besaß ich nicht, was in dieser Lage von Nutzen ist. Kaum Wasser, ein paar Dosen Baked Beans von Heinz, ein halbes Dutzend Kerzen, Zündhölzer, damit hatte es sich. Ich war deswegen nicht beunruhigt. Ein paar Tage bloß musste ich durchhalten, bis ich Agathe gefunden hatte, und dann würde sich alles Weitere finden. Sie sollte sehen, dass sie sich geirrt hatte und ich nicht weggerannt war, wie sie immer vorausgesagt hatte. Eines Tages wird die große weiße Maschine kommen, wie ein Engel im Himmel erscheinen und euch alle mitnehmen und fortbringen – das hat sie gesagt. Aber schon nach der ersten Nacht hatte ich die Hose voll. Sah
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