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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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Verbündeten ihrer Sache, einen Mitarbeiter wie alle Schweizer in den dreißig Jahren zuvor, seit wir in dieses Land gekommen waren. Warum sollte sich daran etwas geändert haben, nur weil sie jetzt Frauen die Brüste abhackten und Schwangeren die ungeborenen Kinder aus dem Leib schnitten? Schließlich waren wir es gewesen, die ihnen die Verwaltung beigebracht hatten, das Wissen, wie man eine Sache von dieser Größe angeht, und es spielt keine wesentliche Rolle, ob man Ziegelsteine oder Leichen abtransportiert. Ja. Sie ließen mich in Ruhe.
    Ich weiß nicht, ob ich Agathe je geliebt habe. Vielleicht habe ich in den vier Jahren, die ich sie kannte, auch nur versucht, unsere erste Begegnung zu vergessen, diese Verletzung zu tilgen, die sie mir zugefügt hat, damals, am Flughafen in Brüssel. Sie sollte begreifen, dass ich nicht der dumme Junge war, für den sie mich gehalten hatte, als ich mich bei der Passkontrolle für sie einsetzte.
    Es war meine allererste Flugreise, Ende Juni neunzehnhundertneunzig. Ich war auf dem Weg, meinen Posten bei der Direktion in Kigali anzutreten. Man erwartete mich, und wie ich hörte, gab es eine Menge Arbeit, weil mein Vorgänger eine ziemliche Unordnung hinterlassen hatte. Ich reiste in offizieller Mission. Ich fühlte mich wichtig. Und da ich, aus Zürich kommend, in Brüssel in die Maschine der Sabena umsteigen musste, hatte ich die belgische Passkontrolle zu passieren. Da stand sie. Eine afrikanische Frau in europäischer Garderobe, Caprihosen, die ihre schlanken Fesseln sehen ließen, offene Schuhe, rot lackierte Zehennägel, etwas, das ich noch nicht allzu oft gesehen hatte. Unter den Arm hatte sie einen neckischen Sonnenschirm mit einem Entenkopf als Knauf geklemmt. Es gab Probleme mit ihren Papieren, das heißt, ihr Pass war vollkommen in Ordnung, wie ich später erfuhr, das Problem war ihre Nationalität, und die belgischen Zöllner schikanierten sie einzig aus diesem Grund: weil sie Staatsbürgerin einer ehemaligen Kolonie war. Sie blätterten wieder und wieder in den Papieren, stellten aufdringliche Fragen. Einer der beiden, der mit den dicken Tressen und dem Trinkergesicht, verschwand für lange Minuten. Die Leute hatten sich längst in eine andere Reihe gestellt, nur ich war stehen geblieben und blieb es weiterhin, bewegte mich nicht, weil ich die Frau nicht diesen Scheusalen überlassen wollte. Sie selbst blieb gelassen, ließ die Sache an sich vorbeigehen, aber ich geriet von Minute zu Minute mehr in Wallung, und während ich noch zögerte, ob ich nicht besser hinter der Linie bleiben sollte, so wie es mir die blatterige Schrift auf dem Fußboden befahl, ließ der eine Zollbeamte jenen niederträchtigen Ausdruck aus der portugiesischen Sklavenhändlersprache hören, dessen Ursprung und Bedeutung ich weniger als einen Monat zuvor im Ausreisekurs, im Modul zur interkulturellen Kommunikation, gelernt hatte, ein Schimpfwort, das Identität durch Pigmentierung herstellt.
    Vor meinem inneren Auge erschienen die drei Totenköpfe, mit denen dieser Begriff auf dem Arbeitsblatt gekennzeichnet gewesen war, zum Zeichen der vollständigen Tilgung aus dem Wortschatz eines Mitarbeiters der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe.
    Damit war der Kriegsgrund gegeben, die gelbe Linie wurde zum Rubikon, und ich überschritt ihn im nächsten Moment ohne das geringste Zögern. Ich würde den rassistischen Idioten klarmachen, dass andere Zeiten angebrochen waren. Auch nach dreißig Jahren hatten diese grau uniformierten Scheusale den Verlust ihrer Kolonien nicht überwunden, und ich hatte von ihren Museen gehört, draußen vor den Toren Brüssels, in Tervuren, erbaut von Leopold dem Zweiten, dem Vater aller rassistischen Scheusale. Dort huldigten sie unverhohlen den Verbrechen der Force Public, nannten den Meuchelmörder Stanley einen großen Mann und zeigten den Koffer seiner Kongoreise als Reliquie in einer Heldenvitrine. Sollten sie das tun, aber sie mussten merken, dass sie das Weltgewissen gegen sich hatten, und ich fürchte, dass ich in unserer Muttersprache einige Flüche in ihre Richtung schleuderte.
    Im nächsten Augenblick wurde ich von zwei vorher unsichtbaren Sicherheitsbeamten gepackt und in die Luft gehoben, was nicht nur schmerzte, sondern mir in den nächsten Tagen und Wochen die Lebensfreude nehmen sollte und schließlich sogar meine Mission gefährdete. Wenn ich ehrlich bin: Was als Schatten über den vier Jahren lag, die ich in Kigali verbrachte,
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