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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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Frontschweine, meinte er, aber wir haben keine Wahl. Jemand muss unsere Botschaft hinaus in die Hügel tragen. Sollen wir die Bauern auch den letzten Wald abholzen und sie auf ihren blanken, erodierten Böden sitzen lassen? Nein, das geht nicht, schließlich wollen wir in den Himmel kommen, und wie soll das gehen, wenn nicht durch gute Taten? Seine Worte klangen wie eine Rechtfertigung, und ich verstand nicht, gegen wen oder was er die Schule verteidigen musste, bis ich später erfuhr, in welcher Krise das Institut steckte. Es bildete jährlich zwei Dutzend Waldarbeiter aus, diplomierte Forstleute, die keine Arbeit fanden, einfach deswegen, weil es in diesem Land überhaupt keine Wälder mehr gab und man auch keine wünschte, weil die Bauern lieber Pferdebananen für ihr selbstgebrautes Bier anbauten. Im ganzen Land waren bloß zwei größere Waldflächen übrig geblieben: die Regenwälder an den Hängen der Virungas, die man stehen ließ, weil mit den dort lebenden Gorillas gutes Geld zu machen war – und außerdem gab es den Nyungwe, den letzten Primärwald des Landes. Er war unser hauptsächliches Kampfgebiet, denn die Bauern konnten es nicht erwarten, auch den Nyungwe abzuholzen, das Holz zu verfeuern und die erjagten Schimpansen darauf zu braten.
    Es gibt Menschen, die sie vor ihrem eigenen Untergang bewahren, meinte Paul, und einen dieser Heroen der Entwicklungshilfe sollte ich kennenlernen, einen der zwei Dutzend unserer Experten, die draußen im Feld die Drecksarbeit erledigten. Wir fuhren weiter in den Süden, wo es hügeliger wurde und wir bald in die Formationen von Nelken- und Leberwurstbäumen eintauchten. Irgendwann wurden zwischen den Bäumen zwei schmucke, aufgeräumte Blockhäuser sichtbar, eine rote Fahne mit dem weißen Kreuz flatterte fröhlich in der Brise. Zwei Kinder empfingen uns, blonde Engelchen am Rande der Wildnis, die nackten Füße schmutzig, aber ihre Seelen unberührt von allen schädlichen Einflüssen der Zivilisation. Ihr Vater, den man den General nannte, kümmerte sich um den Schutzgürtel aus Fichten und Eukalyptusbäumen, den er persönlich um den Urwald gepflanzt hatte, eine Kompanie Frontschweine aus der forstwirtschaftlichen Schule Nyamishaba vor sich hertreibend, die er keinen Moment aus den Augen lassen durfte, weil man den Zöglingen zwar die lateinischen Namen eines jeden Unkrautes eingetrichtert hatte, nicht aber die Fähigkeit, auch nur eine halbe Stunde ohne Aufsicht zu arbeiten.
    Seine Frau bebaute den Garten, zog Gemüse und Kartoffeln, hielt Hühner und Kaninchen, sodass sie nur Reis, Zucker, Fett und Kaffee zukaufen musste. In der übrigen Zeit unterrichtete sie ihre Kinder in einem eigens als Schulzimmer eingerichteten Blockhaus, lehrte sie schreiben, lesen und rechnen, erzählte ihnen von der Heimat, von den Bergen und den Seen, die auf billigen Drucken an der Wand hingen und an die sie keine Erinnerung hatten. Die Muttersprache der Kinder war tatsächlich nichts anderes als die Sprache ihrer Mutter. Ihr Wortschatz, alleine von ihren Eltern übernommen, klang seltsam fremd, zu erwachsen, zu ernst, ohne Unsinnsworte, die man auf der Straße von anderen Kindern lernt. Sie antworteten auf unsere Fragen knapp, präzise, benutzten Begriffe wie
selbstverständlich
und
Entwicklungshorizont
, und begleiteten uns hinaus in eine frische Rodung, wo der General uns eine Schneise zeigte, die Frevler in den Gürtel aus Pinien geschlagen hatten, um sechs oder sieben Urwaldriesen aus dem Nyungwe zu fällen. Einer, den sie in der Eile umgesägt, aber nicht weggeschafft hatten, lag noch da, und die Kinder kletterten auf den Stamm wie Großwildjäger auf einen erlegten Elefanten. Dieser Baum sei über zweihundertfünfzig Jahre alt geworden, meinte der General, er allein habe mehrere Hektoliter Wasser gebunden – die Bauern hätten keinen Schimmer, was sie mit ihrem Holzfrevel anrichteten. Der Wald funktioniere wie ein Reservoir, wie ein Schwamm, der das Wasser sammle und in kleinen Portionen dem Land zurückgebe. Ohne Nyungwe würden sie wie die Ratten ersaufen, weil bei jedem Regen die Flüsse über die Ufer treten würden. Aber wie sollte man diesen Sachverhalt einem Bauern erklären, dessen Sprache für Vergangenheit und Zukunft nur ein Wort kennt, nicht unterscheidet zwischen dem, was gestern war und morgen sein könnte. Sie interessieren sich nur, was der heutige Tag bringt, und wenn er ihnen Brennholz schenkt, dann war es ein guter Tag.
    Bald darauf fiel die Nacht, und wir
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