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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten
Autoren: Lisa Unger
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kleinen Kindern aus dem Haus kommen. Plötzlich und mit einem Sehnen musste er an das Baby denken, das Isabel sich wünschte. Er selbst hatte nie Kinder gewollt, hatte sich über Isabels Schwangerschaft geärgert und war über die Fehlgeburt sogar erleichtert gewesen. Aber irgendwie löste der Anblick der Frau mit ihren zwei kleinen Töchtern ein tiefes, schmerzliches Bedauern in ihm aus. Marcus wandte das Gesicht ab, so dass sie ihn nicht erkannten, als sie auf der anderen Straßenseite vorbeiliefen.
    »Du hast es dir gut gehen lassen«, sagte Ivan, der ebenfalls zum Hauseingang geschaut hatte. Im hellen Morgenlicht konnte Marcus die dunklen Ringe unter Ivans Augen sehen und eine lange Narbe auf der Wange, an die er sich gar nicht erinnern konnte. Ivans Kleidung wirkte billig und verschmutzt, seine Nägel waren blutig abgekaut. Er sah nicht gut aus, er sah aus wie jemand, der entweder kein Geld hat oder keine Lust, sich um sein Äußeres zu kümmern. Wie jemand, der zu viel Zeit in geschlossenen Räumen verbracht hat. Ivan konnte immer noch lächeln, aber alle Wärme war verschwunden. Sein Gesicht war wie versteinert.
    »Und du? Wie geht es dir?«, fragte Marcus und spürte, wie Beklemmung seine Brust einschnürte.
    Ivan zuckte gleichgültig die Achseln und hob beide Hände. »Schlechter als dir.«
    Marcus wartete einen Augenblick. »Was willst du von mir?«
    »Hast du gedacht, du würdest mich nie wiedersehen?«
    »Viel Zeit ist vergangen.«
    »Ja, Marcus«, sagte Ivan, wobei er den Namen sarkastisch betonte. »Das ist wohl wahr.«
    Marcus bewegte sich widerwillig auf das Auto zu. Als er die Hand an den Türgriff legte, entdeckte er seine Frau, die gerade aus dem Haus kam. Sie hatte sich das Haar hochgebunden und es mit einem dünnen Gummi zu zähmen versucht. Sie trug Sportklamotten, ein altes, verwaschenes Sweatshirt und abgetretene Turnschuhe. Er dachte an ihr gemeinsames Frühstück und dass sie sich wegen der Kalorien gesorgt hatte. Er duckte sich ins Auto und beobachtete, wie sie sich zögernd umschaute. Ihr Gesicht wirkte hart, wie immer, wenn sie sich zu etwas zwang, wozu sie keine Lust hatte. Selbst aus der Entfernung konnte er das erkennen. Dann drehte sie sich unvermittelt um und rannte los. Jede Faser in Marcus’ Körper sehnte sich danach, ihr nachzulaufen, aber Ivan saß schon auf dem Fahrersitz. Das Auto geriet in Schieflage, und der Innenraum füllte sich mit Ivans Gestank - Schweiß und kalter Zigarettenqualm.
    »Keine Sorge«, meinte Ivan und stieß ein kehliges Lachen aus. »Ich will nur reden. Eine neue Übereinkunft aushandeln.«
    »Sehe ich besorgt aus, Ivan?«, fragte Marcus und lächelte cool. Ivan antwortete nicht.
    Als sie sich in den Straßenverkehr einfädelten, fiel Marcus ein Vers aus dem Propheten wieder ein: »Heute werfe ich nicht meine Kleider ab, sondern meine eigene Haut, die ich eigenhändig von mir reiße.« Marcus konnte fühlen, wie sein bisheriges Leben davonzog und verblasste. An jedem Häuserblock, den sie passierten, ließ er ein kleines Stückchen seiner selbst zurück. Er fühlte, wie die Verbindung zwischen ihm und Isabel aufs Äußerste gespannt wurde und schließlich riss. Er spürte es wie einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. Aber er tröstete sich mit einem ziemlich merkwürdigen Gedanken: Der Mann, um den sie trauern und den sie irgendwann hassen, jener Mann, dem sie niemals verzeihen würde, hatte in Wahrheit niemals existiert.
     

ZWEI
    R ick«, sagte ich, fünfzehn Stunden nachdem Marcus aus dem Haus gegangen war. Es ging auf zweiundzwanzig Uhr zu. Die Lasagne in der Glasform stand zusammengesackt und unberührt auf dem Küchentresen. Im Kühlschrank welkte ein Salatkopf vor sich hin. »Ich bin’s, Isabel.«
    »Hey, Iz!«, antwortete er fröhlich. Ich glaubte, etwas Gezwungenes in seiner Stimme zu hören, so als kostete ihn seine Fröhlichkeit große Mühe. »Was ist los?«
    »Macht ihr heute Überstunden?« Ich versuchte, locker und ungezwungen zu klingen. Der Fernseher lief, der Ton war kaum zu hören. Über den Bildschirm flirrten die CNN-Nachrichten - Aufständische hatten im Irak eine Autobombe gezündet, eine Prominente hatte sich den Kopf rasiert und sich in eine Klinik einweisen lassen, in Chicago war ein Polizist erschossen worden. Ich konnte das Wasser durch die Leitungen in der Wand rauschen hören. Unser Nachbar duschte.
    Das Schweigen am anderen Ende drehte mir den Magen um.
    »Jaaa«, kam es viel zu spät und in gespielter Qual zurück,
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