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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten
Autoren: Lisa Unger
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Treppe zur U-Bahn hinunter und war dankbar für die Wärme, selbst wenn es an diesem Morgen ungewöhnlich stark nach Urin stank. Er ließ seine Karte durch den Schlitz gleiten, ging durchs Drehkreuz und wartete auf die U-Bahn nach Downtown.
    Es war kurz nach neun, so dass sich auf dem Bahnsteig weniger Leute aufhielten als noch eine Stunde zuvor.
    Die Hände immer noch in den Taschen, lehnte Marcus sich an die Wand und wartete. Der New Yorker wartet immer und überall - auf Züge, auf Busse, auf ein Taxi; er wartet in unmöglich langen Warteschlangen auf einen Kaffee und in großen Menschenansammlungen auf den Beginn eines Films oder einer Kunstausstellung. Der Rest der Welt hält die New Yorker für ruppig und ungeduldig, aber in Wahrheit sind sie es gewohnt, sich mit der Resignation der Verdammten in die Schlange einzureihen. Sie mögen klagen, aber sie warten geduldig.
    Marcus war im Alter von achtzehn Jahren in die Stadt gekommen, hatte sich aber nie als New Yorker betrachtet. Er kam sich eher wie ein Zoobesucher vor, dem man erlaubt hatte, im Gehege zwischen den Tieren umherzuschlendern. Aber eigentlich hatte er sich immer schon so gefühlt, selbst als Kind, in seiner Heimat. Immer stand er als stiller Beobachter am Rande. Er hatte das längst als Teil seiner Persönlichkeit akzeptiert, war nicht im Geringsten unglücklich darüber und empfand auch kein Selbstmitleid. Isabel hatte das immer verstanden; als Schriftstellerin befand sie sich in einer ähnlichen Lage. Beobachten kann nur, wer isoliert am Rande steht.
    Dieser Satz war der erste von vielen Gründen, aus denen er sich zu ihr hingezogen fühlte. Er hatte einen ihrer Romane gelesen und ihn außergewöhnlich tiefsinnig und aussagekräftig gefunden. Er war fasziniert von ihrem Foto auf der Rückseite des Buches und versuchte, über das Internet mehr über sie zu erfahren. Was er las, steigerte sein Interesse: Sie stammte aus wohlhabenden Verhältnissen, hatte jedoch aus eigener Kraft Karriere gemacht und acht Bestseller geschrieben. Sie hatte die Welt bereist und bemerkenswert einfühlsame Essays über ihre Reisen verfasst. »Prag ist die Stadt der Geheimnisse«, hatte sie geschrieben. »Märchenhafte Straßen verwandeln sich plötzlich in dunkle Gassen, hinter einer schweren Eichentür mit schmiedeeisernen Beschlägen versteckt sich ein geheimer Hinterhof, die kunstvollen Fassaden bergen eine dunkle Geschichte. Die Stadt zeigt ihr prächtiges Antlitz, es ist wunderschön und von edler Abstammung, aber ihre Augen sind kalt. Sie schmunzelt, aber sie lacht nie. Sie weiß etwas, aber sie verrät es nicht.« Es war die Wahrheit, die kaum je ein Außenstehender begreifen konnte; dennoch hatte es diese amerikanische Schriftstellerin geschafft, einen Blick auf das Innerste der Stadt zu erhaschen, und das bewegte ihn.
    Ihre rabenschwarzen Locken und ihre dunklen Augen, ihre schneeweiße Haut, ihre zarte Nackenlinie und die zierlichen Hände, die ihn an einen Vogel erinnerten, hatten ihn dazu gebracht, zu einer ihrer Signierstunden zu gehen. Er wusste sofort, dass sie die Richtige war, wie die Amerikaner es nennen - so als hätten sie nur gelebt, um einander zu finden und eins zu werden. Auch wenn er anfangs etwas ganz anderes darunter verstanden hatte.
    Das alles schien so lange her zu sein - der erste Nervenkitzel, das übermächtige Verlangen. Oft wünschte er sich, er könnte noch einmal diesen ersten Abend erleben, die ersten gemeinsamen Jahre. Er hatte so viel falsch gemacht - manches wusste sie, anderes dufte sie nie, niemals erfahren. Er erinnerte sich daran, dass er, als sie frisch in ihn verliebt war, etwas in ihrem Blick gesehen hatte, das die Leere in seinem Inneren füllte. Aber obwohl sie seine dunklen Geheimnisse nicht kannte, schaute sie ihn nicht mehr so an. Ihr Blick schien an ihm vorbeizugehen. Wenn sie ihm in die Augen sah, hatte er das Gefühl, sie betrachte jemanden, der gar nicht existierte. Und vielleicht war es seine Schuld.
    Er hörte die U-Bahn herandonnern und stieß sich von der Wand ab. Er ging auf die Bahnsteigkante zu, als er plötzlich eine Hand auf seinem Arm spürte. Der Griff war kraftvoll und fest. Marcus fuhr reflexartig herum und befreite sich, indem er zurückwich und die Faust nach oben riss.
    »Bleib locker, Marcus«, sagte der Mann und lachte kehlig. »Entspann dich.« Er hob seine fleischigen Hände und hielt sie in der Luft. »Warum so nervös?«
    »Ivan«, sagte Marcus kühl, obwohl sein Herz hämmerte wie eine
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