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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten
Autoren: Lisa Unger
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adrenalingetriebene Pumpe. Der Moment bekam etwas Surreales, Finsteres, Albtraumhaftes. Ivan war ein Geist, tief in Marcus’ Erinnerung vergraben, und nun starrte er ihn an wie einen exhumierten Leichnam. Ivan, damals ein großer, drahtiger junger Mann, manisch und verschroben, hatte stark zugenommen. Nicht an Fett, sondern an Muskeln; er sah aus wie ein Bulldozer, gedrungen und kräftig, so als könnte er Beton zermalmen oder gar die Erde selbst.
    »Was?« Wieder das tiefe Lachen, diesmal weniger amüsiert. »Kein ›Wie geht’s?‹ Kein ›Schön, dich zu sehen‹?«
    Marcus betrachtete Ivans Gesicht. Das breite Grinsen, die Wangenknochen, die wie Felsen hervorstanden, die dunklen, blitzenden Augen - sie konnten sich jederzeit zu Eis verwandeln. Selbst jetzt, da er sich jovial gab, strahlte Ivan eine gewisse Leere, etwas Verstörendes aus. Es war so merkwürdig, ihm an diesem Ort zu begegnen, in diesem Leben, dass Marcus für einen Moment das Gefühl hatte, immer noch neben Isabel im Bett zu liegen und zu träumen. Gleich würde er aufwachen, wie immer, wenn ein Albtraum ihn heimsuchte.
    Marcus schwieg, während seine U-Bahn hielt und wieder abfuhr. Jetzt waren die beiden Männer auf dem Bahnsteig allein. Die Frau am Fahrkartenschalter war in ein Taschenbuch vertieft. Marcus hörte das Wummern der U-Bahnen unter der Erde und das Hupen und Rauschen von der Straße. Zu viel Zeit verstrich. Während sie sich anschwiegen, wurde Ivans Gesichtsausdruck kühl und hart.
    Dann stieß Marcus ein Lachen aus, das von den Betonwänden widerhallte und die Frau am Schalter veranlasste, kurz von ihrem Buch aufzublicken.
    »Ivan«, sagte Marcus mit einem gezwungenen Lächeln. »Wozu die Anspannung?«
    Ivan lachte unsicher, dann boxte er Marcus in den Oberarm. Marcus umarmte Ivan überschwänglich, und sie klopften einander kräftig auf den Rücken.
    »Hast du etwas Zeit für mich?«, fragte Ivan, legte einen Arm um Marcus’ Schulter und zog ihn zum Ausgang. Ivans gigantischer Arm fühlte sich an wie eine Rinderhälfte, die nur mit Hilfe einer Maschine zu heben ist. Marcus tat, als hätte er den drohenden Unterton nicht bemerkt.
    »Selbstverständlich, Ivan«, antwortete er. »Selbstverständlich habe ich Zeit für dich.«
    Marcus’ Stimme klang brüchig, was er mit einem Hüsteln zu kaschieren suchte. Falls Ivan es bemerkt hatte, ließ er sich nichts anmerken. Während sie die Treppe hinaufstiegen und Ivan ihn fest umarmt hielt, bahnte sich ein Strom aus bösen Vorahnungen einen Weg von Marcus’ Kehle bis in seinen Magen. Ivan redete, erzählte einen Witz über eine Nutte und einen Priester, aber Marcus hörte nicht zu. Er dachte an Isabel. Daran, wie sie heute Morgen ausgesehen hatte, ein bisschen verschlafen, sehr hübsch in dem Pyjama, mit zerzausten Locken, die nach Geißblatt und Sex dufteten und nach Butter und Marmelade.
    Auf der Straße lachte Ivan schallend über seinen eigenen Witz, und Marcus stimmte automatisch mit ein, obwohl er die Pointe nicht mitbekommen hatte. Ivan kannte eine Menge Witze, einer dümmer als der andere. Auf diese Weise hatte er hauptsächlich Englisch gelernt. Er hatte Witzbücher gelesen und den Stand-up-Komikern zugehört. Er war der Ansicht gewesen, man könne eine fremde Sprache nur verstehen, wenn man ihren Humor begreife, wenn man wisse, worüber die Muttersprachler lachen. Marcus war sich da nicht so sicher. Aber es brachte nichts, mit Ivan zu streiten. Ganz im Gegenteil, es war ungesund. Diesem Riesen von einem Mann brannte bei der kleinsten Gelegenheit die Sicherung durch. In einer Minute lachte er, in der nächsten prügelte er mit seinen riesigen Pranken auf sein Gegenüber ein. So hatte er sich schon verhalten, als sie Kinder waren, vor einer halben Ewigkeit.
    Ivan ging auf einen neuen Lincoln zu, der auf der 68. Straße im Halteverbot stand. Er öffnete den Wagen per Fernbedienung. Das Auto sah teuer aus; angesichts seiner Lebensumstände während der vergangenen Jahre konnte Ivan sich so etwas kaum leisten. Marcus wusste, was das zu bedeuten hatte. Ivan war wieder zu jenem Lebensstil zurückgekehrt, der ihm die Probleme überhaupt erst eingebrockt hatte.
    Marcus’ Blick fiel auf seine eigene Haustür aus schimmerndem Glas und poliertem Holz und die großzügige, halbrunde Auffahrt davor. Die Markise am Eingang war mit einem Kranz geschmückt und erinnerte daran, dass Weihnachten vor der Tür stand.
    Er sah eine Nachbarin, die junge Mutter - hieß sie Janie? - mit ihren zwei
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