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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten
Autoren: Lisa Unger
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Geste, sich den Mund abzuwischen. Er hatte sich für ein wichtiges Meeting umgezogen. Alles entscheidend waren die Worte, mit denen er mir den Termin beschrieb. Er warf einen Blick auf sein Spiegelbild in der Mikrowellenklappe und wischte sich die Marmelade ab.
    »Danke«, sagte er und ging zur Tür. Er nahm seine lederne Laptoptasche und hängte sie sich über die Schulter. Die Tasche wirkte schwer, und ich fürchtete, sie könne seinen Anzug zerknittern, ein todschickes, teures Ding aus schwarzer Wolle, das er sich neulich erst gekauft hatte. Aber ich sagte nichts. Ich wollte ihn nicht bemuttern.
    »Danke wofür?«, fragte ich. Mir war bereits entfallen, dass ich ihm die Peinlichkeit erspart hatte, mit Essensresten im Gesicht zu einem Meeting zu erscheinen.
    »Dafür, dass du das Schönste bist, was ich an diesem Tag zu sehen kriege.« Er war ein opportunistischer Charmeur. Immer schon gewesen.
    Ich lachte, schlang meine Arme um seinen Nacken und küsste ihn noch einmal. Er wusste, was er sagen musste, damit ich mich wohlfühlte. Ich würde tatsächlich den ganzen Tag an unseren Sex denken, an das Croissant, an sein Lächeln, an seinen letzten Satz.
    »Mach sie fertig«, sagte ich, als ich ihn an der Haustür verabschiedete und ihm nachschaute, wie er zum Aufzug am Ende des kurzen Flurs lief. Er drückte auf den Knopf und wartete. Wegen des Flurs hatten wir uns für das Apartment entschieden, noch bevor wir durch die Tür gegangen waren - der dicke, rote Teppichboden, die Wandvertäfelung, die drei Meter hohen Decken. New Yorker Vorkriegseleganz. Die Türen des Aufzugs öffneten sich lautlos. Vielleicht habe ich in diesem Moment, kurz bevor er den Aufzug betrat, den Schatten über sein Gesicht huschen sehen. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet, um jenem Moment eine Bedeutung zu verleihen. Aber falls er überhaupt da war, dieser Anflug von - was eigentlich? Angst? Traurigkeit? -, so ging er ebenso schnell wieder vorüber. So schnell, dass ich ihn in jenem Augenblick nicht bewusst registrierte.
    »Das werde ich, du kennst mich doch«, erwiderte er, cool wie immer. Aber bei diesen Worten hörte ich ihn genau heraus, seinen muttersprachlichen Akzent, der sich nur bemerkbar machte, wenn er unter Stress stand oder betrunken war. Aber ich machte mir keine Sorgen um ihn. Ich zweifelte niemals an ihm. Was immer er sich für den Tag vorgenommen hatte - es hatte mit neuen Investoren für seine Firma zu tun -, ich war mir sicher, dass er es schaffen würde. So war es immer. Er bekam, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Mit einem Winken und einem kecken Schulterblick betrat er den Aufzug, und die Türen schlossen sich hinter ihm. Und dann war er weg.
    Während der Aufzug abwärtsglitt und ihn und seine Stimme mitnahm, bildete ich mir ein, ihn herumalbern und »Ich liebe dich, Izzy!« rufen zu hören.
    Ich musste lächeln. Nach fünf Ehejahren, einer Fehlgeburt, mindestens fünf Totalabstürzen, die sich bis in die frühen Morgenstunden hinzogen, aufregendem Sex, ödem Sex, guten Tagen und schlechten Tagen, nach vielen kleineren (und nicht so kleinen) Enttäuschungen und Herzschmerz, der sich unweigerlich einstellt, wirft man die Flinte nicht bei der erstbesten Gelegenheit ins Korn; nach ein paar düsteren Momenten, in denen ich überzeugt war, es nicht mit ihm zu schaffen und ohne ihn besser dran zu sein, nach all jenen atemlosen Momenten, in denen ich glaubte, ohne ihn nicht mehr leben zu können - nach alldem hätte er es mir nicht mehr zu sagen brauchen. Trotzdem war ich froh, es von ihm zu hören.
    Ich schloss die Tür, und mein Vormittag begann. Fünf Minuten später telefonierte ich mit Jack Mannes, meinem alten Freund und Langzeitagent.
    »Wann kommt der Scheck?« Die ewige Frage der Autoren.
    »Ich werde mich drum kümmern.« Die ewige Antwort der Agenten. »Wie kommst du mit dem Manuskript voran?«
    »Ich … komme voran.«
    Zwanzig Minuten später, als ich zum Joggen aufbrach, hatte ich den Geschmack von Marcs buttrigem Himbeermarmeladenkuss immer noch auf den Lippen.
     
    Als er auf die Straße trat, schlug ihm ein eisiger Wind entgegen, und er wünschte, er hätte einen Mantel mitgenommen. Er spielte kurz mit dem Gedanken, noch einmal umzukehren, aber dafür war es zu spät. Also knöpfte er sich die Anzugjacke zu, schulterte seine Laptoptasche und vergrub die Hände tief in den Hosentaschen. Eilig lief er über die 68. Straße, um zum Broadway zu kommen. An der Kreuzung sprang er die gelb gekachelte
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