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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten
Autoren: Lisa Unger
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weglaufen.
    »Zeigen Sie mir bitte Ihren Pass«, sagt sie in strengem Ton. Ich sehe einen Anflug von Angst in ihren blauen Augen aufblitzen, und so etwas wie Aufregung. Ich merke, dass ich vor ihr zurückweiche. Das gefällt ihr gar nicht, und sie macht einen Schritt auf mich zu.
    »Bleiben Sie stehen«, sagt sie und nimmt die Schultern zurück, um größer zu wirken. Ich gehorche. Während ich krampfhaft überlege, was ich tun soll, breitet sich die Stille zwischen uns aus.
    »Sagen Sie mir Ihren Namen.«
    Ich drehe mich um und renne los. Eigentlich ist es mehr ein Stolpern, und ich komme nur langsam und recht unelegant vorwärts. Sie brüllt mich auf Tschechisch an, und ich brauche keinen Dolmetscher, um zu begreifen, dass ich tief in der Tinte stecke. Dann fühle ich ihre Hand an meiner Schulter und liege wieder am Boden. Die kleine Frau ist erstaunlich kräftig und rammt mir ihr Knie in den Rücken. Es verschlägt mir den Atem. Ich stemme mich gegen das Gewicht und schnappe nach Luft. Ich höre meinen eigenen panischen, rasselnden Atem. Sie brüllt in ihr Funkgerät. Sie will mir die Arme hinter den Rücken ziehen, als ich plötzlich merke, wie ihr Körper mit einem Ruck von mir weggestoßen wird. Ich höre, wie ihre Pistole klappernd auf das Pflaster fällt, und drehe mich um. Sie liegt auf der Seite und starrt mich aus ihren schockierend blauen Augen an, die inzwischen weit aufgerissen sind vor Schmerz und Todesangst. Ich will zu ihr, halte aber inne, als sie den Mund öffnet und sich ein Blutschwall in den Schnee ergießt. Ich erkenne einen roten, sich rasch ausbreitenden Fleck an ihrem Unterleib. Sie versucht, ihn mit der Hand zu bedecken, aber das Blut sickert ihr durch die Finger.
    Dann hebe ich den Kopf und sehe ihn. Wie eine schwarze Säule ragt er aus der weißen Landschaft auf. Er hat die Waffe sinken lassen und steht reglos da, während der Wind an seinen Haaren zerrt. Ich rapple mich auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und gehe langsam rückwärts.
    »Warum hast du das getan?«, frage ich.
    Er kommt auf mich zu, seine gedämpften Schritte hallen von den Hauswänden wider.
    »Warum?«, kreische ich. Aber er scheint unbeeindruckt, und sein Gesicht ist starr, so als hätte ich ihm nie etwas bedeutet. Vielleicht ist das die Wahrheit. Ich sehe, wie er den Arm hebt, und drehe mich um. Er wird auf mich schießen, und ich renne um mein Leben.
     

ERSTER TEIL
     
    ABSCHIED
     
    Ihr bleibt vereint, wenn die weißen Schwingen des Todes eure Tage scheiden.
    Khalil Gibran, Der Prophet
     
     

EINS
    A ls ich meinen Mann zum letzten Mal sah, hing ein winziger Tropfen aus Himbeermarmelade in seinem blonden Spitzbart. Wir hatten eben Cappuccino aus der lächerlich teuren Kaffeemaschine getrunken, die ich drei Wochen zuvor aus einer plötzlichen Laune heraus gekauft hatte, und dazu Croissants gegessen, die er von seinem täglichen Achtkilometerlauf mitgebracht hatte, ohne die Ironie der Situation zu bemerken. Sein schlanker, durchtrainierter Körper funktionierte wie eine Maschine und nahm, wenn überhaupt, nur an Muskelmasse zu. Ganz anders als bei mir. Meine Oberschenkel werden allein schon vom Geruch der Backwaren breiter.
    Die Croissants waren noch warm. Ich versuchte zu widerstehen, während er sie aufschnitt, mit Butter und Marmelade bestrich und eines mit heraustropfender Füllung vor mir auf dem weißen Teller liegen ließ. Ich kämpfte innerlich, verlor und griff danach. Es war perfekt - flockig, auf der Zunge zergehend, süß und salzig zugleich. Und dann war es weg.
    »Du übst keinen guten Einfluss auf mich aus«, sagte ich und leckte mir Butter von den Fingern. »Ich bräuchte mehr als eine Stunde auf dem Crosstrainer, um das wieder zu verbrennen. Und wir wissen beide, dass das nicht passiert.« Aus blauen Augen warf er mir einen reumütigen Blick zu.
    »Ich weiß«, entgegnete er, »und es tut mir leid.« Dann das Lächeln. Oh, dieses Lächeln. Es wollte mit einem Lächeln erwidert werden, egal, wie wütend oder frustriert ich gerade war, wie satt ich es hatte. »Aber es war doch gut, oder? Du wirst den ganzen Tag dran denken.« Redete er über das Croissant oder über den Sex vor Sonnenaufgang?
    »Ja«, sagte ich, als er mich küsste, seinen starken Arm um meine Taille legte und mich fest an sich zog. Die Geste fühlte sich an wie eine Einladung, nicht wie der Abschied, als der sie sich herausstellen sollte. »Du hast recht.«
    In dem Augenblick sah ich die Marmelade. Ich bedeutete ihm mit einer
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