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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten
Autoren: Lisa Unger
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ich nicht einfach die Wahrheit? Ich erzählte niemandem davon, nicht einmal Linda und Jack. Ich weiß es auch nicht, vielleicht handelte es sich um eine Art ängstlicher Bequemlichkeit. Man bemerkt den Knoten in der Achselhöhle, aber man kann sich nicht überwinden, zum Arzt zu gehen, weil man die Diagnose fürchtet. Man will niemandem davon erzählen, denn die Sorge der anderen würde das Problem umso realer machen.
     
    Um drei Uhr morgens dachte ich über seine Affäre nach, über die andere Frau, und warum ich damals nicht mehr hatte erfahren wollen - ihren Namen, wie sie aussah, ihre Kleidergröße, ihren Beruf. Eine Rothaarige, eine Brünette, eine Blondine? Elegant? Intelligent? Ich fragte mich: Ist er jetzt bei ihr? Oder bei einer anderen? Hat er mich verlassen?
    Seltsamerweise glaubte ich keinen Moment daran, er könnte einen Unfall gehabt haben - von einem verwirrten Obdachlosen auf die Gleise geschubst, von einem Linienbus überfahren, vor einem alten Gebäude von einem herunterfallenden Steinbrocken erschlagen, alles typische New-York-Unfälle, von denen man gelegentlich hört. Unmöglich, dass ihm etwas Derartiges zustoßen konnte. Dafür war er viel zu aufmerksam. Er hatte immer alles unter Kontrolle. Er glaubte nicht an Unfälle.
    Um fünf Uhr morgens hatte ich alle Gefühlszustände durchlaufen, angefangen bei leichter Sorge bis hin zu blinder Panik und eiskalter Wut. Eine kurze Phase der Gleichgültigkeit stellte sich ein, gefolgt von neuer Angst, die sich alsbald in Hass verwandelte. Dann kam die Niedergeschlagenheit, am Ende die Verzweiflung. Ich wollte gerade meine Schwester anrufen, als das Handy in meiner Hand zu klingeln begann. Das Display blinkte blau: Marc .
    »Mein Gott, Marc, wo steckst du?«, sagte ich sehr wütend, sehr erleichtert, sehr erpicht darauf, seine Stimme zu hören und eine Ausrede, die ich schlucken konnte: Komm schnell ins Krankenhaus, Isabel. Ich bin überfallen worden und habe einen Schlag auf den Kopf gekriegt. Ich bin eben erst aufgewacht. Weine nicht. Es geht mir gut.
    Aber ich hörte nur ein Knacken in der Leitung und das entfernte Jaulen einer Sirene oder Alarmanlage. Dann gedämpfte Stimmen, beide männlich, sie klangen verärgert, mal laut, mal leiser, und ich konnte kein Wort verstehen.
    »Marc!«, rief ich.
    Dann ein Schrei, ein entsetzliches Kreischen. Ein grauenhaftes, tierisches Winseln, das jeden Nerv in meinem Körper erzittern ließ. Ich rief: »Marc! Marcus!«
    Aber das Geschrei hörte nicht auf, es ging mir durch Mark und Bein, bis die Verbindung plötzlich unterbrochen wurde.
     

DREI
    W as macht eine gute Ehe aus? Die Sorte Ehe, wie man sie in der Diamantringwerbung sieht - die schattigen Laubengänge, die glänzenden Augen, die ineinander verschlungenen Finger, der leidenschaftliche Kuss unter einem Sternenhimmel, das Überraschungsdinner bei Kerzenlicht. Gibt es das überhaupt? Sind das nicht nur seltene Momentaufnahmen in einem größeren Panorama aus gemeinsamer Zahnpflege, Geldstreitigkeiten, angebranntem Risotto und zu viel Fernsehen? War meine Ehe glücklich, war sie überhaupt gut? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Ich habe ihn geliebt, konnte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen, offenbarte ihm meine letzten Geheimnisse. Trotz unserer Charakterschwächen und der zahlreichen Fehler, die wir im Leben gemacht hatten, waren wir zusammengekommen und für eine Weile zusammengeblieben.
    Aber jene letzten Momente in der Küche, wo wir uns geküsst und Croissants gegessen hatten und, wäre etwas mehr Zeit gewesen, wieder im Bett gelandet wären, um uns noch einmal zu lieben - waren nichts als Momente. An irgendeinem anderen, zufällig gewählten Tag hätte man beobachten können, wie wir uns darüber streiten, wer einkaufen gehen soll, oder wie wir uns ignorieren - er liest Zeitung, ich starre aus dem Fenster und denke über meinen neuen Roman nach. Man hätte sehen können, wie ich wegen der Fehlgeburt weine und weil ich einfach nicht wieder schwanger werde, während er mir mit verschränkten Armen gegenübersitzt. Die Kinderwunschfrage hatte uns immer gespalten. Meine Schwangerschaft war ein Unfall. Ich höre es ihn sagen, so als erleichterte das meinen Verlust. Jeder Moment zeigt nur eine einzige Facette des Paars, das wir waren, aber nur er kannte das ganze Bild.
     
    Um neun Uhr am nächsten Morgen stand ich vor dem Eingang zu Marcs Büro. Seine Softwarefirma war im obersten Stockwerk eines kleinen Sandsteingebäudes
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