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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten
Autoren: Lisa Unger
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in der Greenwich Avenue untergebracht. In dem Haus gab es noch andere Büros - eine Kanzlei, eine Literaturagentur und im Souterrain einen Fantasy-Buchladen. Ich versuchte es mit dem Schlüssel, konnte die Haustür aber nicht öffnen. Dann erinnerte ich mich an den Einbruch vor etwa einem Monat. Irgendjemand hatte die Tür aufgeschlossen und Computer im Wert von fast hunderttausend Dollar gestohlen. Danach wurden die Schlösser ausgetauscht und eine Alarmanlage installiert.
    Ich wartete. Ich drückte mich in den Hauseingang, um mich vor dem bitterkalten Wind zu schützen. Die Schaufenster der gegenüberliegenden Geschäfte - ein schicker Klamottenladen, eine Apotheke, ein Sexshop - waren wegen der kommenden Feiertage rot und silbern dekoriert. Ich beobachtete die vorbeieilenden Passanten, ein jeder mit seinem Leben beschäftigt, einen Kaffee in der einen, das Handy in der anderen Hand und eine schwere Laptoptasche über der Schulter. Sie dachten an ihre Arbeit, an noch zu besorgende Geschenke, und fragten sich, ob noch Zeit sei, die letzten Weihnachtskarten zu schreiben. Bis gestern war ich genauso - in Eile, mir selbst immer einen Schritt voraus, kein bisschen im Jetzt lebend. Vierundzwanzig Stunden später hatte ich das Gefühl, einen katastrophalen Unfall überstanden zu haben. Mein Leben war ein Haufen zusammengedrückten Blechs, und ich war durch die Windschutzscheibe hinausgeschleudert worden. Die anfängliche Panik, die ich empfunden hatte, als Marcus nicht nach Hause kam, das Entsetzen und die Angst, die mich nach dem schrecklichen Anruf ergriffen hatten, waren verflogen. Ich stand unter Schock, ich lag am Straßenrand und verblutete.
    Nach dem ominösen Anruf hatte ich die Nummer der Polizei gewählt, weil mir in meiner Angst nichts Besseres einfiel. Die Frau am anderen Ende der Leitung erklärte mir, ein vermisster Erwachsener gelte noch lange nicht als Notfall, es sei denn, es gebe Hinweise auf ein Verbrechen oder eine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen. Ich erzählte ihr von den Schreien, die ich gehört hatte. Sie sagte, vielleicht seien die Geräusche aus einem Fernseher gekommen, oder vielleicht erlaube sich jemand einen Scherz mit mir. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Ehemann sich so grausam verhält. Sie erklärte mir, die Polizei könne ohne konkrete Hinweise oder eine Krankengeschichte keine Vermisstenanzeige aufnehmen, besonders nicht für einen Volljährigen, besonders nicht für einen Mann. Der Anruf beweise noch lange nicht, dass etwas nicht stimme.
    »Konkrete Beweise, Madam.«
    »Zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel Blut oder Einbruchspuren, eine Lösegeldforderung - solche Sachen.«
    Sie gab mir eine Telefonnummer und eine Adresse. Ich solle persönlich vorstellig werden und Fotos und zahnärztliche Unterlagen mitbringen. Zahnärztliche Unterlagen .
    »Die meisten Leute tauchen nach zweiundsiebzig Stunden wieder auf.«
    »Die meisten?«
    »Mehr als fünfundsechzig Prozent.«
    »Und die anderen?«
    »Unfall. Ganz selten Mord. Manche Leute verschwinden ganz freiwillig.«
    Als sie das sagte, kam ich mir albern vor. Ich schämte mich. So als wäre ich bloß eine von hundert Ehefrauen, die sie an diesem Abend angerufen haben, weil ihre Männer nicht nach Hause gekommen sind. Schätzchen, er hat dich verlassen, wollte sie sagen. Wach auf.
    Normalerweise hätte ich als Nächstes bei meiner Schwester und ihrem Mann Erik angerufen, um ihnen alles zu erzählen und mir Unterstützung zu holen. Aber ich ließ es bleiben. Ich konnte mich nicht überwinden, Linda anzurufen, denn dann hätte ich sie auch in die Affäre einweihen müssen, oder? Damit sie sich ein Bild machen konnte. Es war unmöglich. Aus demselben Grund - und noch ein paar anderen Gründen - ließ ich es ebenfalls bleiben, Jack anzurufen. Er hatte sich seine Ablehnung Marcus gegenüber nie anmerken lassen, trotzdem spürte ich sie deutlich.
    Jack und ich hatten eine komplizierte Vorgeschichte. Außerdem würden sich in Marcus’ Augen alle Verdächtigungen bezüglich meiner Freundschaft zu Jack bestätigen, falls er erfuhr, dass ich mich in einer Notlage an Jack gewandt hatte. Marcus gefiel es nicht, dass wir uns nahestanden, dass wir ständig telefonierten, und er behauptete, unser Verhalten sei unserem rein beruflichen Verhältnis nicht angemessen. Ehrlich gesagt hat Marc meine Freundschaft zu Jack während unserer schlimmsten Streitereien stets zum Thema gemacht. Er fand, ich erzähle Jack zu viel, ich sehe ihn zu oft, er berühre
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