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Huehnerhoelle

Huehnerhoelle

Titel: Huehnerhoelle
Autoren: Herbert Beckmann
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Friedhofs her hörten sie jetzt Schritte auf dem Kies. Lanfermann schaute auf seine Uhr. Halb neun. »Bisschen früh für die ersten Friedhofsbesucher. Am Tag nach Allerseelen«, wunderte er sich.
    Ein Mann mit einer Figur wie ein Leuchtturm kam über den Hauptweg auf sie zu geeilt. Mit Riesenschritten, die mehr wie raumgreifendes Waten als wie schnelles Gehen aussahen.
    Â»Ach, bloß der Leichwart«, sagte Lanfermann. »Jetzt gibt’s ein schönes Abschiedsfoto für den Guten.«
    Â»Promi bleibt eben Promi«, lästerte Wagner und blickte mit einem breiten Grinsen zwischen den Ohren auf die Leiche hinunter.

3
    Â»Doktor Heiland soll kommen. Sie sind nicht Doktor Heiland!«, krächzte seine Mutter wie ein heiserer alter Papagei.
    Felix Hufeland fuhr sich verzweifelt mit der großen Hand durch die tabakbraunen Haare. »Aber Mama, ich bin’s doch, Felix. Dein Sohn Felix.«
    Â»Nä, du nicht. Dich will ich nicht. Ich will Doktor Heiland.«
    Hufeland fragte sich, ob sie nun den Arzt des Herz-Jesu-Pflegeheims oder den Pfarrer oder gleich Jesus persönlich sprechen wollte. Wie er seine fromme Mutter kannte, sicher Letzteren.
    Sie fixierte mit wütendem Ausdruck in den wässrigen Augen das Mahagoniregal gegenüber. In dem Fach mit der kleinen Kristallglassammlung standen die schmucklos gerahmten, knallbunten Familienfotos aus den frühen Siebzigern. Vielmehr das, was von ihnen übrig war. In einem Anfall von Wut hatte sie sich kürzlich darauf gestürzt und versucht, sie in kleine Schnipsel zu reißen.
    Der traurige Blumenstrauß-Leichnam im Fach darunter machte ihm jetzt ein schlechtes Gewissen. Es war der von letzter Woche, und heute hatte er frische Blumen vergessen. Das Wasser in der gläsernen Vase war anscheinend nicht gewechselt worden und schon so weit eingetrübt, dass es aussah wie Froschlaich.
    Seine Mutter machte nutzlose Kaubewegungen mit ihrem zahnlosen Kiefer und schwieg jetzt aus Protest, wie es schien.
    Hufeland saß neben ihrem Sessel auf dem äußersten Rand des kirschroten Sofas und fragte sich verzweifelt, wie er sich ihr in Erinnerung bringen konnte. Sollte er am Ende gar ein Lied trällern? Alle meine Entchen, so krumm und schief wie als Kind immer? Soweit kam’s noch.
    Zu der Misere im Augenblick passte das merkwürdig drückende Gefühl, das er seit heute früh im Schritt verspürte. Als trüge er ein Taubenei tief im Steg zwischen den Beinen. Was mochte das sein? Eine leichte Panik trieb ihm plötzlich Schweißperlen auf die Stirn.
    Â»Doktor Heiland!«, krähte seine Mutter auf einmal wieder.
    Â»Ach, verfluchter Heiland! Zum Teufel mit ihm!«, entfuhr es Hufeland. Zwar war er auch im Präsidium bekannt für seine gelegentlichen cholerischen Ausfälle. Aber bei seiner Mutter ging ihm regelmäßig der Gaul durch.
    Sie drehte ihren faltigen, dünnen Hals zu ihm um und fauchte: »Wer hat dir erlaubt zu fluchen, Felix!«
    Er glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Siehst du, Mama, ich bin’s!«, rief er erleichtert. »Der Felix.«
    Â»Felix, ja«, wiederholte sie streng. »Wehe, du fluchst noch mal gegen den Heiland. Dann gibt’s aber …!« Sie drohte unmissverständlich mit der kleinen, runzligen Hand.
    Hufeland lachte und betrachtete gerührt die dicken blauen Würmer auf ihrem Handrücken.
    Â»Lach nicht!«, fuhr sie ihn an.
    Er hörte auf zu lachen.
    Irgendwie war es nun doch wie früher. Als sie noch eine komplette halbe Familie waren und unter einem Dach wohnten, er und seine Mutter. In Münster, Herz-Jesu-Viertel, wo er noch heute lebte und sie Jahrzehnte als Gemeindeschwester gearbeitet hatte. Die andere Hälfte der Familie, sein Vater und Bernd, der Ältere, hatte schon früh getrennt von ihnen gelebt. In Dortmund-Aplerbeck. Hufeland, als er noch der kleine Felix und nicht der lange Lulatsch von heute war, hatte seinen großen Bruder anfangs im Stillen wegen Aplerbeck beneidet. Das musste das Paradies sein, dachte er damals. Er stellte es sich als ein Dorf voller blühender Apfelbäume an einem kleinen sprudelnden Bach vor. Mit weihnachtsroten Früchten, die immer reif und süß waren. Weil er immerzu Appelbeck herausgehört hatte. Bis er seinen Vater und Bernd eines Tages besuchen durfte. Sie wohnten an der Köln-Berliner Straße. Kein einziger Apfelbaum weit und breit. Überhaupt kein
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