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House of God

House of God

Titel: House of God
Autoren: Samuel Shem
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gegangen. Langsam entspanne ich mich, kenne wieder, was ich früher kannte, den Frieden, die regenbogengleiche Vollkommenheit des Nichtstuns. Die Tage beginnen, sich weich und warm anzufühlen, wie die Nostalgie eines Seufzers. Die Natur ist so üppig, daß die Vögel gar nicht alle reifen Brombeeren holen können. Ich bleibe stehen und pflücke mir welche. Saftiger Staub in meinem Mund. Meine Sandalen schlappen auf dem Asphalt. Ich sehe, wie sich die Blumen in Farben und Formen überbieten, um die Bienen anzulocken. Zum ersten Mal seit einem Jahr habe ich Frieden.
    Ich biege um eine Ecke und sehe ein großes Gebäude wie ein Altersheim oder Krankenhaus. »Hospice« steht über dem Eingang. Ich bekomme eine Gänsehaut, meine Nackenhaare sträuben sich, meine Zähne beißen sich fest zusammen. Da sind sie. Man hat sie in die Sonne hinausgesetzt, in einen kleinen Garten. Das Weiß ihrer Haare läßt sie im Grün des Gartens wie Pusteblumen auf der Wiese aussehen. Als warteten sie auf den Wind, der sie fortbläst. Gomers. Ich starre sie an. Ich erkenne die Zeichen. Ich stelle Diagnosen. Als ich an ihnen vorbeigehe, scheinen ihre Augen mir zu folgen, als versuchten sie, mir irgendwo in ihrer Demenz zuzuwinken oder
bonjour
zu sagen oder ein anderes Zeichen von Menschlichkeit zu geben. Aber sie winken nicht, sagen nicht
bonjour
und geben auch sonst kein Zeichen. Gesund, braungebrannt, schwitzend, betrunken, mit Brombeeren vollgestopft, innerlich lachend und die Grausamkeit dieses Lachens fürchtend, fühle ich mich großartig. Ich fühle mich immer großartig, wenn ich einen Gomer sehe. Jetzt liebe ich diese Gomers.
    Das ist die schlimmste Nacht. Ich wache auf, fahre hoch, hellwach, in Schweiß gebadet und schreie, als die Kirchenglocken drei Uhr schlagen. Mein Kopf ist voller schrecklicher Bilder des Jahres im
House of God.
Mein Schreien weckt Berry und ich sage:
    »Ich habe endlich gesehen, wo sie sie aufbewahren.«
    »Wen?« fragt sie, noch halb im Schlaf.
    »Die Gomers. Sie nennen es ›Hospice‹.«
    »Beruhige dich, Liebling. Es ist vorbei.«
    »Ist es nicht. Ich kriege sie nicht raus aus meinem Kopf. Alles erinnert mich an das Jahr im
House.
Ich weiß nicht, wie ich das vergessen soll. Das macht mein ganzes Leben kaputt. Ich hätte nie gedacht, daß es so schlimm sein würde.«
    »Versuche nicht, es zu vergessen, Liebling. Versuche, es aufzuarbeiten.«
    »Ich dachte, das hätte ich bereits getan.«
    »Nein, das dauert seine Zeit. Komm«, sagt sie und umarmt mich, »rede mit mir, erzähle mir, wo es wehtut.«
    Ich erzähle es ihr. Ich spreche wieder über Dr. Sanders, der in meinem Schoß verblutete, über den Blick in Potts Augen in der Nacht, bevor er sprang, darüber wie ich das KCL in den armen Saul gespritzt habe. Ich sage ihr, wie sehr ich mich schäme, ein sarkastisches Schwein gewesen zu sein, das die Alten Gomer nennt, und wie ich mich während meines
Internships
über sie lustig gemacht habe, weil sie schwach waren und weil sie mir ihr Leiden ins Gesicht geschleudert haben, weil sie mir Angst machten, weil sie mich zwangen, widerliche Dinge zu tun, wenn ich ihnen helfen sollte. Ich sage ihr, daß ich im Angesicht des Todes mitfühlend sein möchte, und daß ich nicht glaube, es jemals zu schaffen. Wenn ich zurückdenke an das, was ich durchgemacht habe und was aus mir geworden ist, steigt Traurigkeit in mir auf und mischt sich mit Verachtung. Ich lege meinen Kopf in Berrys Höhlungen und Rundungen und weine und fluche und schimpfe und weine.
    »… du hast es auf deine Weise getan. Jemand mußte sich um die Gomers kümmern. In diesem Jahr hast du es getan, auf deine Art.«
    »Das Schlimmste ist diese Bitterkeit. Ich war ganz anders, freundlich, ja großzügig, nicht wahr? Ich war nicht immer so, oder doch?«
    »Ich liebe dich so, wie du bist. Für mich bist du – unter all dem – immer noch da.« Sie machte eine Pause und sagte dann mit blitzenden Augen: »Und vielleicht bist du jetzt sogar noch besser.«
    »Was? Wie meinst du das?«
    »Vielleicht war dies die einzige Möglichkeit, dich aufzuwecken. Dein ganzes Leben war ein äußerliches Wachsen, du mußtest mit Herausforderungen fertig werden, die andere dir gestellt haben. Jetzt wächst du vielleicht von innen. Es kann eine ganz neue Welt werden, Roy, das weiß ich. Ein ganz neues Leben.« Mit tränennassen Augen fügte sie hinzu: »Ich liebe dich noch mehr, Roy, weil ich so lange auf dich gewartet habe.«
    Überwältigt. Sprachlos. Erregt, ja
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