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Holunderblut

Holunderblut

Titel: Holunderblut
Autoren: Barbara Brinkmann
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lässt sich nur etwas anfangen, wenn einem jemand eine Prognose dazugibt.
    Da hat der Dr.   Busconi gelächelt, und Lächeln heißt ja schon einmal Prognose so schlecht nicht, obwohl sein Lächeln ein bisschen müde ausgesehen hat, wahrscheinlich doppelte Nachtschicht.
    »Großes Glück, heißt das, dass es durch die Blutung zwischen Dura und Arachnoidea noch zu keinen neurologischen Ausfällen oder Schäden gekommen ist, zumindest keinen größeren. Es muss umgehend operiert werden, umdie Blutung zu stillen und den Druck aufs Gehirn zu beseitigen. Das ist ein Routineeingriff, keine Angst.«
    Keine Angst im Sinne von: Alles wird gut, machen wir hier andauernd, reine Routine.
    Aber Routine oder nicht, jeder Eingriff hinterlässt seine Spuren, und alles, was uns geschieht, verändert uns fürs Leben.
     
    Sie haben sie auf die Intensivstation gebracht, und dort ist er an ihrem Bett gesessen. Mit all den Geräten drum herum schon wieder neben einer seiner Frauen im Krankenhaus zu sitzen, das hat sich der Matteo vor ein paar Tagen, als er noch bei sommerlichen Temperaturen mit seiner Schwester auf der Piazza Navona beim Caffè gesessen ist, so irgendwie gar nicht vorgestellt gehabt. So war das alles nicht geplant gewesen, aber was ist im Leben schon planbar, und was war im Moment noch planbar, außer wann und in welchem der O P-Säle und mit welcher Belegschaft die Katharina unters Messer beziehungsweise unter den Bohrer und die Operationssonde kommt.
    Diese furchtbar ungemütlichen Kunststoffstühle.
    Sie war wach und ansprechbar, und über die Infusion war ihr Kreislauf stabilisiert.
    »
Ehi, Katharina. Come va?
«
    »Sie haben es dir gesagt, Matteo?«
    »Mhm. Ein netter, junger, italienischer Arzt. Hast du Angst?« Ihre Hand zwischen seinen. Sie hat sich kalt angefühlt und kraftlos.
    »Ja«, hat sie irgendwann leise geantwortet. »Und du?«
    »Ich auch.«
    Zwischen all den blinkenden und piepsenden Geräten um sie herum war er das einzig Vertraute.
    Irgendwie hatte er sie hierhergebracht. In seinem Wagen. Sie hatte sich übergeben. In seinem Wagen. Ihre Erinnerung war bruchstückhaft.
    Der Brunner ist mit einer Verstärkung gekommen, und sie hat Hunderte von Sternen am Himmel gesehen, und sie ist in Lucarellis BMW gesessen,
Senti l’eco ove t’aggiri, sussurrar tra fiori e fronde
, und es war wie ein Echo, ein Déjà-vu, weil sie ist
wieder
in der Klinik gelegen, und er ist
wieder
an ihrem Bett gesessen, aber diesmal hat es sich mehr so angefühlt wie ein Kopfschuss.
    »
Resta qui, Lucarelli

    »
Certo, commissaria

    Aber Déjà-vu oder nicht, alles, was uns geschieht, verändert uns fürs Leben.
     
    Und wie ein vergessenes Déjà-vu hat der Altmann Thomas die Sterne und den Nachthimmel über sich gesehen, als die Sanitäter und die Polizisten ihn die Auffahrt vor Sabines Haus entlanggeführt haben, und die warme Decke, in die sie ihn gehüllt haben, war weich und hat geduftet, und der Geruch der Nacht hat eine Ahnung von Herbst in sich getragen, und der Kies unter seinen nackten Füßen war kalt und feucht. Er war noch am Leben, und so fühlt sich das Leben an, wie Kieselsteine. So einfach war das.
     
    Und die Altmann Clara hat ihren schlafenden Sohn zugedeckt und ist noch eine Weile an einem der raumhohen Fenster in seinem Zimmer gestanden, hat über die Wiesen und Wälder geblickt, die dort, verloren im Dunkeln, mit dem sternenübersäten Nachthimmel verschmolzen sind, irgendwo in der Ferne, und irgendwo aus der Ferne war die Sirene von einem Krankenwagen zu hören, und sie hatdas letzte Fenster geschlossen und die leichte Gardine davor zugezogen, sich über ihren schlafenden Sohn gebeugt und ihn geküsst. Er war ihr Leben, ihr Ein und Alles. So einfach war das.
     
    Und der Allmandinger Peter ist in seinem Stall gestanden und hat das neugeborene Kalb betrachtet, und wie gut seine Kuh das gemacht hat, und das Wunder des Lebens bestaunt, weil, egal ob Tier oder Mensch, ein neues Leben ist immer ein Wunder, und im Stall war es warm und dampfig, und draußen über den Wiesen und Weiden, die den Hof umgeben, war es sternenklar. Das ist der Kreislauf des Lebens, einer wird geboren und woanders auf der Welt stirbt jemand, im selben Moment, unter demselben Sternenhimmel. So einfach ist das.
     
    Und der Hafner Andreas ist durch seine Werkstatt gegangen und hat diesen Geruch nach Altöl und Schmiermitteln eingesogen und davon geträumt, das alles hier irgendwann einmal hinter sich zu lassen, so, wie er den
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