Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Titel: Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
Autoren: Am Abgrund
Vom Netzwerk:
Jahre her sein, daß ich Euch gesehen habt, wie Ihr im frühen Morgengrauen das Dorf verlassen habt. Ihr habt Marius hierher gebracht, und die Frauen haben sich erzählt, Ihr wärt ein entfernter Verwandter von ihm - aber ein Delãny: Nein, das könnt Ihr nicht sein.«
Delãny schloß einen schmerzhaften Herzschlag lang die Augen. Marius. Er hatte seine Gründe gehabt, seine Vaterschaft nicht an die große Glocke zu hängen. Und es war ihm auch lieber gewesen, daß bis auf ein paar Eingeweihte im Dorf niemand wußte, daß er seinen Sohn weggeben hatte, weil er ihn hier sicherer geglaubt hatte als in den Bergen, in den sich gleichermaßen rätselhafte wie bedrohliche Vorfälle gehäuft hatten - die mit dem Mord an Michail und seiner Mutter geendet hatten. Abgesehen davon brauchte niemand zu wissen, daß er Andrej Delãny war, der Mann, den man mit dem Kirchenraub in Rotthurn in Verbindung brachte.
»Ich … gehöre zu einem fernen Zweig der Familie. Einem sehr kleinen.« Mit einer Geste auf seinen toten Großonkel fügte er hinzu: »Barak hat mich erkannt.«
Frederic nickte mit nachdenklichem Gesicht. »Barak hat Euch erkannt«, bestätigte er. »Und Ihr habt seinen Namen genannt, als Ihr hereingekommen seid … Aber das hat doch überhaupt nichts zu bedeuten.«
»Es ist mir nicht wichtig, für wen du mich hältst«, sagte Delãny barsch und voller Unruhe. »Sag mir lieber, wo Marius ist. Ich muß sofort zu ihm.« »Marius?« echote Frederic. »Ich … ich … weiß nicht.« Als er Andrejs drohenden und mittlerweile vor Sorge fast irrsinnigen Gesichtsausdruck sah, zuckte er zusammen, als ob er geschlagen worden wäre. »Ich … ich«, stotterte er.
»Ja?« fragte Andrej leise. Irgend etwas tief hinten in seiner Kehle zog sich in Erwartung einer schlechten Nachricht so schmerzhaft zusammen, daß er kaum noch Luft bekam. »Was weißt du, Bursche? Spuck es aus.«
Frederic verzog ängstlich das Gesicht und tat so, als dächte er angestrengt nach. »Marius ist nicht hier«, sagte er schließlich. »Vor einer Woche oder so … sie haben ihn nach Kertz gebracht. Er sollte dort aushelfen.«
Andrej spürte eine Welle der Erleichterung und Hoffnung durch seinen Körper jagen. »Ist das auch wirklich wahr?« bohrte er nach.
Frederic nickte eifrig. »Aber ja, Herr«, sagte er. »So wahr ich hier stehe. So und nicht anders ist es gewesen.«
Delãny atmete ein paar Mal tief durch. Es dauerte einen Moment, bevor er sich soweit beruhigte, daß er weitersprechen konnte. »Du fragst dich, wer ich bin. Und das fragst du zu Recht, nach alldem, was hier passiert ist. Ich denke, du hast ein Recht auf eine vernünftige Antwort.«
Der Junge legte den Kopf schief und nickte. »Das wäre nicht schlecht«, bekannte er.
»Nun gut«, sagte Andrej. »Du sollst die Wahrheit wissen. Ich war lange nicht mehr hier. Viele Jahre. Ich wußte nicht einmal, daß Barak noch am Leben ist. Ich bin gekommen, um … ihm einen Freundschaftsbesuch abzustatten.«
»Da habt Ihr Euch einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht, Herr«, sagte Frederic düster. Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht auch einen guten. Wäret Ihr zwei Tage eher gekommen, dann wärt Ihr jetzt wohl auch tot.«
»Was ist passiert?«
Frederic setzte zu einer Antwort an, doch dann wanderte sein Blick wieder zu Barak hin, und sein Gesicht verdüsterte sich. Bisher hatte sich der Junge erstaunlich gut in der Gewalt gehabt angesichts dessen, was er erlebt und mit angesehen hatte, aber nun begannen sich seine Augen mit Tränen zu füllen.
»Gehen wir nach draußen«, schlug Andrej vor. »Dort redet es sich besser.«
Frederic widersprach nicht, sondern drehte sich rasch um und verließ mit schnellen Schritten nicht nur das Zimmer, sondern eilte auch, ohne zu zögern, die Treppe hinunter. Andrej wollte dem Jungen die Möglichkeit geben, sich ein wenig zu beruhigen, und unterdrückte deshalb in letzter Sekunde den Ausruf, mit dem er ihn eigentlich hatte aufhalten wollen. Statt dessen warf er einen letzten Blick auf Barak und nahm in Gedanken von ihm Abschied; erst dann drehte er sich um und folgte dem jungen Delãny, der die schmale Treppe bereits so schnell hinuntergeeilt war, als sei ihm der Leibhaftige auf den Fersen. Bevor Frederic durch die Tür aus seinem
Blickfeld verschwand, warf er Andrej einen ängstlichen Blick zu und für einen grotesken Moment hatte Delãny das Gefühl, als wollte der Junge etwas vor ihm verbergen.
Die Treppe hinabzusteigen war viel schlimmer, als er geglaubt hatte.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher