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Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Titel: Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
Autoren: Am Abgrund
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Tor. Es stand weit offen. Nichts rührte sich.
Delãny stieg aus dem Sattel, tätschelte dem Pferd, das immer nervöser - oder womöglich ängstlicher? - wurde, beruhigend den Hals und ging mit langsamen Schritten weiter. Das niedrige Torgewölbe warf das Geräusch seiner Schritte verzerrt zurück, und in den Ecken und Winkeln flüsterten Schatten Geschichten aus längst vergangenen, düsteren Zeiten - erzählten aber auch von kommendem Schrecken, der noch nicht wirklich Gestalt angenommen hatte.
Delãny schüttelte den Gedanken ab und ging schneller. Er hatte genug mit den Problemen der Gegenwart zu tun. Das Vergangene war vergangen, und das Kommende war sowieso nicht mehr aufzuhalten.
Er betrat den kleinen Innenhof mit seinen einfachen hölzernen Nebengebäuden und drehte sich mit in den Nacken gelegtem Kopf einmal um seine Achse. Die jahrhundertealten Mauern der Bauernburg ragten lotrecht um ihn auf, hoch genug immerhin, um für einen nicht allzu entschlossenen Heerestrupp ein unüberwindbares Hindernis zu sein. Der Himmel war nur ein verwaschener Fleck trüber Helligkeit, die keine wirkliche Substanz zu haben schien, und das war auch gut so: Über die Jahre waren seine Augen immer lichtempfindlicher geworden, weshalb er helle Tage mied und im Sommer am liebsten in der Morgen- oder Abenddämmerung unterwegs war.
Nichts rührte sich. Es war, als stünde er in einem Grab, das für Riesen gemacht worden war.
War es das? fragte sich Delãny schaudernd. Es mochte eine mögliche Erklärung sein: Die Bewohner des Dorfes konnten sich vor einem anrückenden feindlichen Heer in den Wehrturm geflüchtet haben, wo sie und die Verteidiger dann gemeinsam ihr Schicksal ereilt hatte.
Aber dann hätte er Spuren eines erbitterten Kampfes vorfinden müssen. Der Hof war jedoch leer; und viel aufgeräumter und sauberer, als er es jemals gewesen war, als Andrej noch hier gelebt hatte.
Delãny drehte sich mit einer entschlossenen Bewegung um und ging auf den Wehrturm zu. Die große, zweiflügelige Tür war nur angelehnt, und als er sie öffnete, knarrte sie noch genauso wie in seiner Jugend. Er trat hindurch, senkte die Lider und gab seinen Augen damit Gelegenheit, sich an das ewige Zwielicht zu gewöhnen, das in dem großen Raum mit den viel zu kleinen Fenstern herrschte. Er hatte keine Angst, dadurch verwundbar zu sein - seine Sinne würden ihn zuverlässig vor jeder Gefahr warnen. Er hörte leise, undeutliche Geräusche: die Laute, die eine große Halle von sich gibt,
wenn man ganz still dasteht und lauscht - das Heulen des Windes, der durch ein offenstehendes Fenster eindrang, das Prasseln einer Fackel, etwas, das ein Stöhnen sein mochte, vielleicht aber auch nur das Knarren von Holz. Der Geruch eines Feuers lag in der Luft, und noch etwas, das ihm auf furchtbare Weise vertraut vorkam.
Als er die Augen öffnete, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Hier waren die Toten, nach denen er gesucht hatte. Sie lagen säuberlich aufgereiht auf den Fliesen vor dem großen Kamin; viele, nicht annähernd so viele, wie es hätten sein können, aber trotzdem viele. Die meisten waren jung; Männer in einem Alter, in dem auch er gewesen war, als er den Wehrturm von Borsã das letzte Mal gesehen hatte, aber es gab auch ein paar Alte unter ihnen und zwei oder drei, die kaum dem Kindesalter entwachsen waren.
Wie es aussah, hatte es keinen wirklichen Kampf gegeben. Einige schienen sich gewehrt zu haben - an dem einen oder anderen Schwert klebte Blut, hier und da sah er eine blutige Hand, ohne daß diese eine Verletzung aufwies, einen dunklen, eingetrockneten Fleck auf einem Hemd. Doch der Kampf konnte nicht lange gedauert haben, und offensichtlich hatten sich nur sehr wenige daran beteiligt.
Die meisten schienen regelrecht hingerichtet worden
zu sein. Man hatte ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Zwei junge Männer waren enthauptet worden.
Während Delãny langsam an der Reihe nebeneinanderliegender Leichname vorbeiging, ergriff ihn ein Gefühl unbeschreiblichen Grauens. Er war ein Meister des Schwertkampfes. Michail Nadasdy hatte ihn alles gelehrt, was er im Land der Sarazenen gelernt hatte, und am Schluß war er besser gewesen als sein Lehrer: Aber er hatte, von ein paar üblen Schlägereien abgesehen, im Grunde noch nie wirklich gekämpft. Er hatte das Kämpfen gelernt, aber das Töten … ?
Ganz am Ende der Reihe von gut dreißig Toten blieb er stehen. Der Anblick des letzten Leichnams erschütterte ihn ganz besonders - obwohl er
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