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Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1

Titel: Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
Autoren: Am Abgrund
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Lebenserfahrung und Kampfkunst an ihn weiterzugeben.
    Wenn er zurückblickte, mußte er gestehen, daß es fast so etwas wie der Anfang seines bewußten Lebens gewesen war, als sich Michail seiner angenommen hatte. Der einzige Wermutstropfen war, daß sie schon kurz nach Michails Rückkehr das Dorf fast fluchtartig hatten verlassen müssen: seine Mutter, Michail und er selbst. Aus einem Grund, den er bis heute noch nicht ganz verstanden hatte, waren dem Weltreisenden nicht nur Neid und Ablehnung entgegengeschlagen, sondern auch ein abgrundtiefer Haß, der sich schließlich in einer blutigen Gewalttat entladen hatte, bei dem Gott sei Dank niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war. Noch in derselben Nacht hatten sie all ihre Habseligkeiten zusammengepackt und waren Hals über Kopf in die Berge aufgebrochen, wo sie für die nächsten Jahre unter vielen Entbehrungen ein sehr einfaches Leben geführt hatten. Er war der einzige gewesen, der noch recht lange zu gelegentlichen Besuchen ins Dorf aufbrach und von einem Onkel oder einer Tante heimlich etwas zugesteckt bekam - allen voran von Barak, der nie einen Hehl daraus gemacht hatte, daß er die Vertreibung von Andrejs Familie mißbilligte.
    Aber es hatte auch noch einen anderen Anfang gegeben, später, nachdem er Michail und seine Mutter verlassen hatte, um in die Welt hinauszuziehen - und um mit seinen sechzehn Jahren dann doch nur bis Rotthurn zu kommen und durch den Kirchenraub für immer und alle Zeiten gebrandmarkt zu werden. Einsam und verwirrt hatte er sich auf den Rückweg zu dem einfachen Haus seiner Mutter gemacht. Auf dem Weg dorthin, mitten in abgelegenem Berggebiet, war er auf Raqi gestoßen. Auch sie war auf der Flucht gewesen. Zusammen hatten sie bei seiner Mutter und Michail Unterschlupf gefunden, bis einer nach dem anderen von ihm gegangen war.
    Kurz nachdem Raqi zu ihnen gestoßen war, hatte es angefangen. Zuerst waren es nur merkwürdige Geräusche gewesen und Fußspuren, die sich in den kärglichen Boden eingegraben hatten, auf dem sie ihre Hütte errichtet hatten. Später dann war es zu hinterhältigen Angriffen durch Unbekannte gekommen, derer sie nie hatten habhaft werden können.
    Inzwischen waren sie alle tot. Seine Mutter hatten sie erwischt, als sie ihren kleinen Kräutergarten gejätet hatte. Bevor Michail und er, durch einen schrecklichen Tumult angelockt, den hinter einen Hügel gelegenen Garten erreicht hatten, war es schon zu spät gewesen. Mit groben Steinen und spitz zulaufenden Holzlatten war seine Mutter fast zu Tode geprügelt worden - die Täter hatten sie nie ausfindig machen können.
    Von den Folgen des Angriffs hatte sich seine Mutter nie erholt. Wenige Wochen danach war sie an ihren Verletzungen elendiglich zugrunde gegangen. Nur zwei Jahre später war Michail Nadasdy nach einem heimtükkischen Attentat an den Folgen eines Schwerthiebs nach tagelangem Siechtum in seinen Armen verblutet. Raqi war dagegen auf natürliche, aber nicht minder entsetzliche Weise im Kindbett gestorben - und mit ihr seine Tochter, die kaum das Tageslicht erblickt hatte, bevor sie der Herr zu sich geholt hatte.
    Es hatte in dieser Zeit nicht einen Tag, nicht eine Stunde gegeben, in der er nicht daran gedacht hätte, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Ganz im Gegenteil; der Tod erschien ihm wie ein sanfter alter Freund, der alle Sorgen und alle Trauer von ihm nehmen würde. Denn wie er es auch drehte und wendete: Er hatte die Menschen, die ihm auf der ganzen Welt am meisten bedeuteten, mit eigenen Händen beerdigt. Nur ihm war die Gnade des Todes bisher nicht zuteil geworden.
    Was also hatte ihn hierher geführt? Ein Instinkt, wie er manche Tiere dazu brachte, an den Ort ihrer Geburt zurückzukehren, um dort zu sterben? War er es Raqi schuldig, ihr zu folgen und seinem Leben ein Ende zu setzen? Oder vielleicht ein noch viel, viel älteres Gefühl - Einsamkeit?
    Andrej zögerte lange, bevor er sich endgültig zum Weiterreiten entschied. Er hatte nichts zu verlieren. Borsã, der Ort seiner Geburt, lag auf der anderen Seite des Hügels, unmittelbar am Ufer des Brasan, an dessen Wassern sich die Bauernburg erhob. Konnte man sich dort noch an ihn erinnern, oder war es zu lange her, seit er, Michail Nadasdy und seine Mutter das Dorf verlassen hatten? Als er viele Jahre später Marius hierher gebracht hatte, war er kurz nach der Einbruch der Nacht angekommen und - um von niemanden als Andrej Delãny und damit als einer der
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