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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig
Autoren: Nelly Arcan
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mißlungene Selbstmordversuch würde zu einem Wendepunkt in dem Leben des Mädchens werden, erklärte sie; überlebt zu haben sei an und für sich ein Zeichen großer Leistungen, Ruhe und Liebe würden sie umgeben und Weiß, weiße Wände, weiße Kittel, die Farbe Weiß werde ihre Zukunft bestimmen. Sie habe ein langes Leben mit einem aufopferungsvollen Beruf vor sich, in dem sie zweifellos viel mit Menschen zu tun haben werde, als Ärztin wahrscheinlich oder als Hebam-me, sie werde Leben retten oder es aus Mutterbäuchen ans Tageslicht holen, jedenfalls sei ihr voller Einsatz gefordert. Meine Zimmergenossin weinte die ganze Zeit wie ein Baby und gestand schließlich schluchzend, sie habe schon als Kind gedacht, sie würde einmal Kranken-schwester wie ihre Mutter. Einen Monat später erfuhren wir, daß sie gleich nach ihrer Entlassung einen neuen Selbstmordversuch unternommen hatte, diesmal, indem sie sich mit Rasierklingen die Pulsadern aufschnitt. Man fand sie in einem weißen Kleid, mit einem Brief darauf.

    Als du mich an dem Abend im Nova gesehen hast, war ich dir eine Länge voraus, denn du wußtest, wer ich war, und du kanntest meinen Ruf. Du wußtest um meine Vergangenheit als Hure und daß ich ein Buch geschrieben hatte, das sich auch verkaufte, deshalb hast du mich für ehrgeizig gehalten. Das erste Mal hattest du mich bei Christiane Charrette gesehen, als Ehrengast, neben mir stand Catherine Millet, hinter mir liefen Nacktfotos von ihr über den Bildschirm, du bist vor dem Fernseher gesessen und hast mir das Anstrengende, etwas Distanzierte angesehen, das schlecht zu dieser Fernsehsendung paßte, die mangelnde Begeisterung, öffentlich beichten zu dürfen. Du hast meine Zurückhaltung gesehen, wo Dankbarkeit, Einverständnis und Kooperation erwartet wurden. Du hast mich für arrogant gehalten und gedacht, daß ich über meinen Geschichten stehe, so empört wies ich Fragen zurück, und daß eine Frau wie ich sich nie für einen Mann wie dich interessieren würde; ich erfuhr in Frankreich Anerkennung, du hattest noch kein Buch publiziert, für dich war ich eine Frau, die es geschafft hat.
    Ich erschien dir so siegessicher in deiner Wohnzimmer-ecke, und für die Zeit dieser Sendung hast du sogar Nadine vergessen.
    Daß du mich kanntest, bevor du mich kennengelernt hast, führte zu einem Mißverständnis. Als du mich zum ersten Mal sahst, hast du nicht bedacht, daß Menschen im Fernsehen größer wirken, weil Kameralinsen jedem die gleiche Möglichkeit bieten, den Raum zu füllen, und ihn so zum Mittelpunkt des Universums machen, der alle Blicke auf sich lenkt, wie die Sterne, die dein Vater durch sein Teleskop beobachtete; dein Vater war dem Kosmos verfallen, er stieg jeden Abend zu dem kleinen Unter-stand auf dem Dach eures Hauses hinauf, um den letzten Moment der Sterne zu erhaschen, wenn sie explodierten, und ließ dich allein mit deinem Spielzeug und dem Wunsch, ihn zu beeindrucken. Du hast nicht bedacht, daß man auf dem Bildschirm viel größer wirkt als in Wirklichkeit und das Blau der Augen noch blauer und daß die Bühnenscheinwerfer der Haut den goldenen Schimmer des Erfolgs verleihen, mein Gott, was würde ich dafür geben, wenn du mich weiter so im Kopf behalten könntest, mein Gott, wieviel lieber wäre es mir gewesen, wenn wir uns nie getroffen hätten im Nova, Rue Saint-Dominique. Mein Großvater sagte, daß zwischen Liebe und Distanz eine enge Beziehung bestehe, deshalb habe Gott sich am Tag nach der Erschaffung des Menschen sehr weit in den Himmel zurückgezogen.

    Als ich dich kennenlernte, lernte ich auch gleich deine drei Ex-Freundinnen kennen, Nadine, Annie und Annick, und bald auch die Massen von Mädchen aus dem Internet, die in deinem Rechner nach Kategorien abgelegt waren, all diese Schoolgirls, College Girls und Girls Nextdoor, Wild Girlfriends und die Stiefelmädchen, die du ganz besonders geil fandst, die Fuckmeboots. Durch dich habe ich gelernt, daß Women im Web eine Seltenheit sind.

    Zwischen uns waren immer zu viele Menschen, das weiß ich heute, du hast aus meiner Vergangenheit als Hure alle möglichen Schlüsse gezogen, zum Beispiel, daß ich alles mitmache, wenn ich erst einmal daran gewöhnt bin. Du hast gedacht, du kannst den Freier spielen, und ich habe nichts dagegen. Meine Theorien über das Ungleichge-wicht zwischen den Geschlechtern brachten dich zum Lachen. Wenn Gott den Eisprung an den Orgasmus gekoppelt hätte statt an einen eigenen Zyklus, der unabhängig ist vom
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