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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig
Autoren: Nelly Arcan
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und breit erklärt werden, und daraus hast du geschlossen, wir seien ein typisches Paar: Kaum waren wir zusammen, verhielt sich jeder seinem Geschlecht gemäß.

    Dann passierte etwas zwischen uns, das kein Zufall war, sondern das Ergebnis einer Reihe von Vorfällen, ich glaube, man nennt das Abnutzungserscheinungen. Kurz bevor du mich verlassen hast, wurde ich schwanger, ohne es dir zu sagen, und habe hinter deinem Rücken das Kind wegmachen lassen; es war das erste Mal, daß ich meine Gedanken vor dir verbarg. Ich wollte, bevor du mich verläßt, einmal etwas ganz alleine schaffen. Ich glaube, ich hatte aus lauter Angst davor, daß du mich verlassen könntest, die Märchen vergessen, die dummerweise immer mit Kindern enden, und ich hatte vergessen, daß mir nur noch wenig Zeit zum Leben blieb. Ich glaube, es war der Geist der Rache, der mir die Überlegung eingab, du müßtest mit diesem Kind bezahlen, weil ich sonst für immer an dir kleben bleiben würde, mein Gott, wie ich die Stärke der Männer hasse, die nie betroffen sind, mein Gott, wäre ich gern ein Mann, um solche Sachen nicht sagen zu müssen.
    Etwas in mir fehlte. Ich sage das, weil im Tarot meiner Tante nie etwas über mich stand, sie konnte mir die Zukunft nicht vorhersagen, selbst als ich noch ein kleines Mädchen war, unbeschadet von der Pubertät. Für manche Menschen beginnt die Zukunft nie oder erst ab einem bestimmten Alter, glaube ich. Wenn ich zu meiner Tante kam, verstummte das Tarot. Es war nur noch ein Haufen Karten, durch meine Gegenwart enttarnt. Meine Tante hat mir das aus Taktgefühl nie verraten, aber ich weiß, daß sie es mir zuschrieb, wenn ihr Tarot seine dritte Dimension verlor, ich weiß, daß sie in meiner Gegenwart nichts anderes sah als Karten einer bestimmten Größe, den Dreck auf dem weißen Kunststoffüberzug und das Kli-scheehafte der Figuren, eine schweigende Ansammlung von Linien und Farben. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen ihrem Tarot und dem Kalender an der Wand, beide lieferten Informationen über Raum und Zeit, und dem war nichts hinzuzufügen. Nicht mein Leben, sondern der Stoff der Zukunft selbst verlor für sie seinen Sinn.
    Durch meine Existenz stellte ich meine Tante in Frage, sie litt sicher darunter, daß ihr Tarot nicht in der Lage war, Zweifel, Passivität und die gefrorene Zeit von Menschen darzustellen, die ihrem Tod ins Auge sehen.

    Ich habe an meinem fünfzehnten Geburtstag beschlossen, mich an meinem dreißigsten Geburtstag umzubringen, vielleicht hat das auch mit dem Tarot zu tun, das gegen die Selbstbestimmung der Menschen machtlos ist.
    Mit der Zeit machte die Angst, nichts in den Karten zu sehen, meine Tante verwirrt und unkonzentriert. Sie hatte Selbstzweifel, vielleicht empfand sie durch mich den Schrecken jener Männer, die im Bett keinen hochkriegen.
    Das Ganze war uns beiden natürlich peinlich, es bedeutete, daß mein ganzes Leben lang mit mir etwas nicht stimmte, es bedeutete, daß schon bei meiner Geburt etwas schief gelaufen sein mußte, zum Beispiel, daß meine Mutter aufgrund offizieller ärztlicher Verlautba-rungen einen Sohn erwartet hatte und von dem Zeitpunkt an, da sie mich zum ersten Mal in den Armen hielt und ich mir die Lunge aus dem Leib schrie, damit sie mich nicht fallen ließ, an meinem Geschlecht zweifelte. Vielleicht sind meine ersten Erinnerungen deshalb hellblau, auf manchen Fotos im großen Familienalbum sieht man, daß mein Zimmer hellblau tapeziert war, und die Puppen, die ich auf anderen Fotos im Arm hielt, sahen auch irgendwie komisch aus, finde ich.
    Als wir uns zum ersten Mal im Nova trafen, wurde ich Punkt Mitternacht neunundzwanzig. Das Problem zwischen uns lag bei mir, es war der auf meinen dreißigsten Geburtstag festgelegte Selbstmord. Wenn du mich nicht verlassen hättest, sondern geliebt bis zum Abend meines dreißigsten Geburtstags, wärst du für dein ganzes Leben von meinem Tod gezeichnet gewesen, nicht weil du die plötzliche Einsamkeit nicht ertragen hättest, nicht weil du nie wieder eine andere hättest lieben können ohne die Furcht, daß deine Liebe auch sie töten könnte, sondern weil dir durch meinen Tod bewußt geworden wäre, daß ich entwischt bin und alle Antworten mit mir genommen habe, und weil du bei jeder Erinnerung an mich über meine Leiche gestolpert wärst. Deshalb ist man auf die Menschen, die sich umbringen, so böse: Sie haben immer das letzte Wort.
    Wir haben darüber nie gesprochen. Du hast mir beigebracht, daß es viel
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