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Hoellenpforte

Hoellenpforte

Titel: Hoellenpforte
Autoren: Anthony Horowitz
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sollte. Der Verkehr rauschte auf vier Spuren vorbei, als könnten die Autofahrer nicht schnell genug wegkommen.
    Dennoch gab es ein paar Hinweise darauf, wie die Gegend einst ausgesehen hatte: eine gepflasterte Gasse, eine Gaslampe, eine rote Telefonzelle, ein Haus mit Säulen und einem eisernen Zaun. Das London von vor siebzig Jahren. Das war es, was Miss Chaplin ihnen hatte zeigen wollen.
    Sie bogen in die Moore Street ein. Es war eine Sackgasse, schmal und voller Pfützen und Schlaglöcher. Auf einer Straßenseite war eine Kneipe und gegenüber ein Waschsalon, der allerdings geschlossen hatte. St. Meredith stand am Ende der Straße, eine aus roten Backsteinen gemauerte Kirche, die viel zu groß für dieses Viertel war. Die Schäden des Krieges waren auf den ersten Blick zu erkennen. Der Turm war nachträglich angeflickt worden. Er hatte nicht einmal die gleiche Farbe wie der Rest des Bauwerks und passte auch nicht richtig zu den riesigen Eichentüren oder den Fenstern mit ihren schweren Steinrahmen.
    Drinnen fühlte Scarlett sich noch unbehaglicher. Sie fuhr zusammen, als die Tür dröhnend hinter ihr zuschlug und der Londoner Verkehrslärm und ein Großteil des Tageslichts plötzlich wie abgeschnitten waren – und damit jedes Gefühl, sich in einer modernen Großstadt zu befinden.
    Das Innere der Kirche erstreckte sich bis zum weit entfernten silbernen Kreuz über dem Altar, auf das ein Strahl staubigen Lichts fiel. Überall sonst hielten die Buntglasfenster das Licht fern und in der matten Beleuchtung verschwammen die Farben. Hunderte Kerzen flackerten nutzlos in eisernen Haltern. Scarlett konnte die kleinen, in die Wände eingelassenen Seitenkapellen erkennen. Auch wenn sie versuchte, nicht an den Mord zu denken, der hier verübt worden war, empfand sie St. Meredith trotzdem nicht als besonders heiligen Ort. Diese Kirche war einfach nur gruselig.
    Die anderen Mädchen schienen ihre Gefühle nicht zu teilen. Sie hatten ihre Skizzenbücher herausgeholt, saßen in den Bankreihen, unterhielten sich und zeichneten, was sie draußen gesehen hatten. Miss Chaplin sah sich die Kanzel an, die die Form eines Adlers hatte. Offenbar neigten die Londoner nicht dazu, nachmittags um zwei zu beten, denn sie hatten die Kirche für sich allein.
    Scarlett sah sich nach Amanda um, aber die Freundin unterhielt sich auf der anderen Seite des Querschiffes mit einem anderen Mädchen, und so setzte Scarlett sich hin und schlug ihren Block auf. Sie musste aufhören, an den Mord zu denken. Um sich abzulenken, machte sie sich stattdessen Gedanken über die Menschen, die in den Bombennächten in der Kirche Schutz gesucht hatten. Hatten die wirklich geglaubt, dass St. Meredith irgendwelche geheimen Kräfte besaß und dass sie hier sicherer waren als in einem Keller oder U-Bahn-Tunnel? Sie stellte sich vor, wie sie hier gesessen und gebetet hatten, während über ihnen die Luftwaffe hinwegdonnerte. Vielleicht würde sie das zeichnen.
    Sie schauderte. Sie hatte zwar einen Mantel an, aber es war eiskalt in der Kirche. Es kam ihr hier drinnen kälter vor als draußen. Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine Reihe Kerzen hatte geflackert, als wäre eine Brise vorbeigezogen. War jemand hereingekommen? Nein. Die Tür war noch zu. Niemand hätte sie öffnen und schließen können, ohne dass sie es gehört hätte.
    Ein Junge ging vorbei. Im ersten Augenblick nahm Scarlett ihn kaum wahr. Er bewegte sich im Schatten an der Seite und ging zwischen den Säulen und den Seitenkapellen in Richtung Altar. Er machte kein Geräusch. Nicht einmal seine Schritte auf dem Marmorfußboden waren zu hören. Er hätte auch schweben können. Sie sah ihn an, als er vorbeiging, und einen Moment lang fiel das Licht einer nackten Glühbirne auf sein Gesicht. Sie kannte ihn.
    Einen Augenblick lang war sie vollkommen durcheinander, weil sie nicht wusste, woher sie ihn kannte. Und plötzlich fiel es ihr ein. Es war total verrückt. Es war unmöglich. Andererseits bestand nicht der geringste Zweifel.
    Es war ein Junge aus ihrem Traum, einer der vier, die sie so oft zusammen in dieser grauen Wüste gesehen hatte. Sie wusste sogar, wie er hieß.
    Es war Matt.
    In normalen Träumen sah Scarlett die Gesichter der Menschen nicht – oder wenn sie sie sah, hatte sie sie beim Aufwachen bereits wieder vergessen. Aber diesen Traum hatte sie nun schon seit zwei Jahren immer wieder. Sie erkannte Matt und die anderen mittlerweile sofort nach dem Einschlafen und deswegen hatte sie
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