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Hoellenpforte

Hoellenpforte

Titel: Hoellenpforte
Autoren: Anthony Horowitz
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Wochenenden ging sie ins Kino. Sie übernachtete bei Mädchen aus ihrer Klasse. Sie hatte eine große Rolle für die Weihnachtsaufführung bekommen, was Proben am späten Nachmittag und Stunden des Textlernens am Abend bedeutete. Das alles beschäftigte sie so, dass sie keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, wie ungewöhnlich ihr Leben war.
    An einem Novembertag änderte sich alles. Es war, als Miss Chaplin ihr großes Bombenkriegs-Projekt ankündigte – einen Ausflug in den Osten von London.
    Joan Chaplin war die Kunstlehrerin von St. Genevieve und berühmt dafür, jünger, netter und wesentlich lockerer zu sein als die vielen Dinosaurier, die das Lehrerzimmer bevölkerten. Sie fand immer neue Wege, das Interesse der Mädchen zu wecken, gewöhnlich, indem sie mit ihnen Ausflüge zu Ausstellungen und Veranstaltungen in ganz London unternahm. Eine Klasse hatte den gewaltigen Riss besichtigt, der in den Fußboden der Tate Gallery eingebaut worden war. Eine andere hatte einen in einem Becken aufgehängten Hai betrachtet, eine Installation des Künstlers Damien Hirst. Noch Wochen später hatten sie darüber diskutiert, ob es sich dabei um ein Kunstwerk gehandelt hatte oder nur um einen toten Fisch.
    Viele der Mädchen hatten als Prüfungsthema den Zweiten Weltkrieg gewählt und zurzeit beschäftigten sie sich mit der Bombardierung Londons durch deutsche Flieger. Miss Chaplin hatte beschlossen, dieses Thema auch in ihrem Kunstunterricht aufzugreifen.
    »Ich möchte, dass ihr ein Gefühl für den Geist jener Zeit bekommt«, erklärte sie. »Was macht es für einen Sinn, etwas darüber zu lernen, wenn ihr es nicht fühlt?« Sie verstummte kurz, um ihren Schülerinnen Gelegenheit zum Protestieren zu geben, und als nichts kam, fuhr sie fort. »Ihr könnt jedes Medium benutzen, Fotografie, Malerei, Collage oder meinetwegen auch Modellieren mit Ton. Ich möchte, dass ihr mir eine Vorstellung davon vermittelt, wie es gewesen sein könnte, im Winter 1940 in London zu leben.«
    In der Klasse war zustimmendes Gemurmel zu hören. Einen Ausflug zu machen war natürlich aufregender, als alles nur in Büchern nachzulesen. Scarlett freute sich besonders darauf. Geschichte und Kunst gehörten zu ihren Lieblingsfächern und jetzt bekam sie die Gelegenheit, beide miteinander zu verbinden.
    »Am Montag fahren wir nach Shoreditch«, fuhr Miss Chaplin fort. »Das ist ein Viertel von London, das besonders heftig bombardiert wurde. Wir werden uns viele der Straßen ansehen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie es gewesen sein muss, und wir werden auch einige Häuser sehen, die erhalten geblieben sind.«
    Sie warf einen Blick nach draußen. Der Kunstraum lag im Erdgeschoss und erlaubte einen Blick in den Garten und auf die dahinter liegenden Tennisplätze. Es war Freitag und es regnete. Der Regen fiel in Strömen, der Rasen war durchweicht. So war es nun schon seit drei Tagen.
    »Natürlich«, erklärte Miss Chaplin weiter, »werden wir nicht fahren können, wenn sich das Wetter nicht bessert. Und ich muss euch warnen: Der Wetterbericht ist nicht besonders vielversprechend. Aber vielleicht haben wir trotzdem Glück. Denkt bitte in jedem Fall daran, eure Eltern die Einwilligung unterschreiben zu lassen.« Dann kam ihr noch ein Gedanke und sie lächelte. »Was meinst du, Scarlett?«
    Das war eine Art Scherz in St. Genevieve.
    Scarlett Adams schien immer zu wissen, wie das Wetter wurde. Niemand wusste, wann das angefangen hatte, aber alle waren sich darüber einig. Man brauchte sich nur anzusehen, was Scarlett anhatte, und schon wusste man, wie der Tag werden würde. Wenn sie ihren Schal vergaß, wurde es warm. Wenn sie einen Schirm dabeihatte, regnete es. Nach einer Weile fingen die anderen an, sie nach ihrer Meinung zu fragen. Wenn ein wichtiges Tennisspiel oder ein Picknick am Fluss geplant waren, redete man mit Scarlett. Und wenn man darauf hoffte, dass ein lästiger Geländelauf abgesagt wurde, würde sie es wissen.
    Natürlich hatte sie nicht immer recht. Aber etwa neunzig Prozent ihrer Vorhersagen stimmten.
    Jetzt sah sie aus dem Fenster. Draußen war es grässlich. Dunkelgraue Wolken bedeckten den gesamten Himmel. Regentropfen rannen über die Fensterscheiben. »Es wird schön«, sagte sie. »Nach dem Wochenende wird es aufklaren.«
    Miss Chaplin nickte. »Ich hoffe, du hast recht.«
    Sie hatte recht. Es regnete den ganzen Sonntag und in der Nacht zum Montag nieselte es. Aber als Scarlett am Montagmorgen aufwachte, war der Himmel
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