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Hoellenpforte

Hoellenpforte

Titel: Hoellenpforte
Autoren: Anthony Horowitz
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blau. Sogar Mrs Murdoch pfiff ein Liedchen, während sie Scarletts Lunchpaket packte. Es war, als wäre der Sommer zu einem letzten Gastauftritt zurückgekehrt.
    Der Bus kam am späten Vormittag. Der Ausflug, der den Kunst- und den Geschichtsunterricht kombinierte, sollte zwei Schulstunden und die Mittagspause dauern und wegen des Londoner Verkehrs würden die Mädchen sicher nicht vor Schulschluss zurück sein. Als sie in St. Genevieve abfuhren, erklärte ihnen Miss Chaplin über das Busmikrofon, was sie geplant hatte. »Wir machen unsere Mittagspause an der St.-PaulsKathedrale«, sagte sie. »Sie ist interessant für uns, weil sie trotz heftiger Bombardierung nicht zerstört wurde. Dann bringt uns der Bus nach Shoreditch, wo wir uns zu Fuß umsehen werden. Da es noch zu feucht ist, um draußen zu sitzen, habe ich mich für St. Meredith in der Moore Street entschieden. Das ist eine der ältesten Kirchen Londons. An dieser Stelle stand bereits im dreizehnten Jahrhundert eine Kapelle.«
    »Warum besichtigen wir eine Kirche?«, fragte eines der Mädchen.
    »Weil sie im Krieg eine wichtige Rolle gespielt hat. Viele Menschen aus der Nachbarschaft haben während der Bombardierung dort Zuflucht gesucht. Sie glaubten tatsächlich, dass die Kirche sie schützen würde – dass sie dort sicher wären.«
    Sie verstummte. Der Bus hatte die Themse erreicht und fuhr über die Blackfriars-Brücke. Scarlett blickte aus dem Fenster. In der Ferne sah sie das Riesenrad, das Millennium Wheel, dessen silberner Rahmen in der Sonne glänzte. Der Anblick machte sie traurig. Sie war in den Ferien mit ihren Eltern in diesem Riesenrad gefahren. Das war eines der letzten Dinge gewesen, die sie gemeinsam gemacht hatten, als sie noch eine Familie waren.
    »… allerdings ist sie am 2. Oktober 1940 getroffen worden.« Miss Chaplin sprach immer noch über St. Meredith. Scarlett hatte ihre Gedanken schweifen lassen und deswegen nur die Hälfte mitbekommen. »Sie wurde nicht zerstört, aber schwer beschädigt. Dort könnt ihr mit euren Skizzenblöcken arbeiten. Wir haben die Erlaubnis, uns in der Kirche aufzuhalten, und ihr dürft euch überall umsehen. Versucht, die Atmosphäre zu spüren. Stellt euch vor, wie es gewesen sein muss, als überall die Bomben explodiert sind.«
    Miss Chaplin schaltete das Mikrofon aus und setzte sich auf den Platz neben dem Fahrer.
    Scarlett saß ein paar Reihen hinter ihr, neben ihrer Freundin Amanda, die in derselben Straße wohnte wie sie. Ihr fiel auf, dass Amanda die Stirn runzelte.
    »Was ist?«, fragte sie.
    »St. Meredith«, antwortete Amanda.
    »Was ist damit?«
    Amanda brauchte ein paar Momente, um sich zu erinnern. »Da ist jemand ermordet worden. Vor ungefähr sechs Monaten.«
    »Im Ernst?«
    »Ja, ganz sicher.«
    Jedem anderen hätte Scarlett das sicher nicht geglaubt. Aber sie wusste, dass Amanda sich sehr für Morde interessierte. Sie hatte alle Agatha-Christie-Krimis gelesen und verpasste auch keinen Kriminalfilm im Fernsehen. »Und wer ist umgebracht worden?«, fragte sie.
    »Ich erinnere mich nicht genau«, sagte Amanda. »Irgendein Typ. Ein Bibliothekar, glaube ich. Er ist erstochen worden.«
    Scarlett hielt das für ziemlich unwahrscheinlich und als der Bus an der St.-Pauls-Kathedrale hielt, ging sie zu Miss Chaplin. Zu ihrer Verblüffung zögerte die Lehrerin nicht einmal. »Ja, das stimmt«, bestätigte sie. »Dort gab es diesen Sommer einen Zwischenfall. Ein Mann ist von einem Unbekannten angegriffen worden. Ich glaube nicht, dass die Polizei den Täter gefasst hat, aber das alles ist schon so lange her. Es beunruhigt dich doch nicht, oder, Scarlett?«
    »Nein«, sagte Scarlett. »Natürlich nicht.«
    Aber das war nicht ganz die Wahrheit. Insgeheim beunruhigte es sie doch, wenn sie auch nicht erklären konnte, wieso. Sie hatte eine böse Vorahnung, die immer stärker wurde, je näher sie der Kirche kamen.
    Ihre Kunstlehrerin hatte diesen Teil Londons aus gutem Grund gewählt. Hier war der Flickenteppich aus Alt und Neu besonders gut zu sehen und es gab große Baulücken, wo Häuser oder sogar ganze Straßen von den Bomben vernichtet worden waren. Die meisten Geschäfte waren schäbig, mit Plastikschildern und Schaufenstern voller Dinge, die die Menschen vermutlich brauchten, aber sicher nicht kaufen wollten: Staubsauger, Hundefutter… hundert Artikel für weniger als ein Pfund. Ein hässliches Parkhaus überragte die Gebäude, aber es war schwer, sich vorzustellen, wieso hier jemand parken
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