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Hoellenfeuer

Hoellenfeuer

Titel: Hoellenfeuer
Autoren: Peter Conrad
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dich nicht vor meinem Namen“, sprach das Wesen. „Ich bin Satan!“
    Das Mädchen wich bei der Nennung dieses Namens instinktiv zurück und wäre beinahe unabsichtlich von der steinernen Brüstung gefallen, von der es sich eben noch vorsätzlich hatte stürzen wollen. Gerade eben noch erlangte sie das Gleichgewicht zurück und starrte das Wesen vor sich neugierig an. Es war ein Mann mit riesigen Flügeln, der dort vor ihr stand. Er war gänzlich in ein gleißendes und zugleich warmes Licht gehüllt, welches nicht von dieser Welt zu sein schien. Dieses Licht strahlte aus ihm selbst heraus und war so angenehm im Auge, dass es in hartem Kontrast zu der finsteren, steinernen Welt des sturmumtosten Turmes stand, auf welchem sie sich befanden.
    „Nein, du bist doch ein Engel “, flüsterte sie. „Du sieht aus wie ein Engel...“
    „Ich bin ein Engel!“, erwiderte Satan ruhig. „Aber ich bin auch Satan. Und genau deswegen gibt es etwas, das wir beide füreinander tun können.“
     
    …
     
    Eleanor verbrachte den restlichen Tag für sich allein. Nach ihrem Gespräch mit Dr. Marcus verspürte sie keine Lust mehr, noch einmal in den Garten zu gehen. Bess schien ihr zwar ein netter und umgänglicher Mensch zu sein, doch ihr war jetzt definitiv nicht nach weiteren Gesprächen zumute. Schon dem weiteren Verlauf des Gespräches mit Dr. Marcus hatte sie nicht mehr recht folgen können, nachdem sie wusste, dass sie noch eine Tablette des Schlafmittels bekommen würde, welches ihr in der vergangenen Nacht endlich zu Schlaf verholfen hatte. Zu Schlaf und zu Träumen. Wunderbaren Träumen.
    Bei dem Gedanken an das fremde Gesicht im Spiegel zog sich Eleanors Magen wieder zusammen. Sie wusste jetzt, was für ein Gefühl es war, das solche Reaktionen bei ihr hervorrief. Es war Sehnsucht. Das Gefühl des Verlustes war es gewesen, das Eleanor hatte aufschreien lassen, als Schwester Emily sie geweckt und aus ihrer Traumwelt gerissen hatte. Sicher, diese Traumwelt war fremd und über die Maßen einsam gewesen. Doch der Mann im Spiegel hatte durch seine bloße Anwesenheit den Traum zu etwas Wunderschönem werden lassen. Eleanor vermisste nicht diese merkwürdige Traumwelt – sie vermisste ihn. Er war es gewesen, der den leeren und unbelebten Palast in ihrem Traum zu einer verzauberten Welt hatte werden lassen, der jede Bedrohlichkeit fehlte.
    Eleanor dachte lange über diese Zusammenhänge nach. Wenn die leeren, einsamen Räume ihres Traumpalastes ein Sinnbild für den Zustand ihrer Seele nach ihrem Zusammenbruch waren welches ihr Unterbewusstsein produziert hatte, wofür stand dann der Mann im Spiegel? Eleanor drehte und wendete diesen Gedanken hin und her, während sie mit angezogenen Knien auf ihrem Bett hockte. Aber ihr fiel kein Faktor in ihrem Leben ein, der eine solch positive Wirkung auf sie hatte, wie der bloße Gedanke an das Gesicht und die Stimme aus ihrem Traum.
    Es schien kaum Abend werden zu wollen. Eleanor saß auf ihrem Bett und grübelte, während die Zeiger der großen Uhr an der Wand sich quälend langsam weiterbewegten. Das Mittagessen kam und ging und wurde nicht angerührt. Ebenso erging es dem Abendessen. Eleanor nahm nicht einmal wahr, worum es sich auf den Tellern handelte. Normalerweise trafen sich die Patienten der Klinik zu den Mahlzeiten im großen Speisesaal, doch für einige Bewohner der geschlossenen Abteilung galten andere Regeln. Ihnen wurde zugestanden, das Essen auf ihren Zimmern einzunehmen, wenn sie dies wünschten. Eleanor kam dies heute gelegen, ohne dass sie es merkte. So fiel lediglich der Schwester auf, dass Eleanor heute nichts aß. Und sie würde sich nicht viel dabei denken; die Fälle auf der geschlossenen Abteilung waren eben hin und wieder merkwürdig und solange sie die Nahrungsaufnahme nicht gänzlich verweigerten, gab es keinen Grund, misstrauisch zu sein.
    Gegen sieben Uhr machte Eleanor sich schließlich bettfertig. Sie zog ihr Nachthemd an, putzte sich die Zähne und setzte sich aufs Bett. Dann griff sie nach der kleinen Plastikbox, in der sich die Tablette befand. Wie hatte Dr. Marcus sie genannt? Tetradyxol?
     
    Eleanor trieb auf einem Meer der Einsamkeit. Die Wellen um sie herum waren grau und undurchsichtig. Sie wirkten wie eine kompakte Masse, der jede Ähnlichkeit mit dem Wasser fremd war, welches Eleanor kannte. Langsam und träge hoben und senkten sich die Wellen. Ohne Geräusch, ohne Leben.
    Eleanor kauerte auf einem Brett, das ehemals eine Tür gewesen sein mochte.
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