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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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können, und nicht in den Wüsten
Colorados oder in einer der Geisterstädte, in denen es nur vergiftetes Wasser
und nichts zu essen gibt.
    Dieser Kodex gilt auch in der Zone, und wie im Wilden Westen halten
sich die Guten daran und die Bösen pfeifen darauf, wenn es sie um einen Vorteil
bringt, und die ganz Üblen täuschen Hilfsbedürftigkeit vor, um sich einen
Vorteil zu ergaunern.
    Ihre Ninja wäre ein enormer Vorteil. Luba kämpft mit der Versuchung,
Vollgas zu geben und darauf zu vertrauen, dass der Idiot, der ein paar hundert
Meter vor ihr mitten auf der Straße steht und mit den Armen wedelt, zur Seite
springt. Sie gibt kurz Gas. Er macht keine Anstalten, sich wegzubewegen. In
letzter Sekunde bremst sie, stemmt sich mit aller Kraft gegen den Lenker und
bringt die Maschine zum Stehen. Luba nimmt den Helm ab.
    »Was gibt’s? Warum versperrst du mir den Weg?«
    »Ich hab eine Panne, und du brauchst mich nicht so blöd anzumachen,
Mädchen. Mir wäre auch lieber, ich wäre nicht auf deine Hilfe angewiesen. Ich
möchte nur von hier bis zum Posten, dann komme ich selbst weiter.«
    »Scheiße! Weißt du, warum ich hier bin? Sicher nicht, um für irgendeinen
Dummkopf, der mit einem Schrottlaster in der Zone herumkurvt, Taxi zu spielen.
Bist du schon mal Motorrad gefahren? Ich meine, so richtig, mit dreihundert
Sachen?«
    »Wenn du glaubst, du könntest mir Angst machen, vergiss es. Fahr
einfach so, wie du denkst, lass mich beim Posten absteigen, und ich werde Danke
sagen, dir Benzingeld geben, und du kannst dein kindisches Motorradrennen
weiterspielen.«
    »Steig auf. Wir fahren nicht zum nächsten Posten, ich hab vorher
noch was zu erledigen.«
    Die Frau fährt in der Mitte der Straße. Als Wiktor versucht, über
ihre Schulter auf den Tacho zu schielen, reißt ihm der Wind fast den Kopf weg,
sodass er sich schnell wieder hinter ihren Rücken zurückzieht. Wahrscheinlich
hat sie die angekündigten dreihundert erreicht. Aber ihm macht sie damit keine
Angst.
    Wiktor nimmt nichts wahr, nur den Lärm des hochtourigen Motors und
den Krach des Windes, der an seinen Haaren zerrt. Dann geht die
Motorradfahrerin vom Gas, und Wiktor sieht um sich herum die kleinen
Waldhäuser, aus denen Bäume und Sträucher wachsen.
    Was will diese Frau hier? Hier ist nichts mehr, nur noch kaputtes,
wertloses Zeug. Die Dorfleute haben doch noch nie etwas gehabt. Zu Zeiten der
Sowjetunion nicht, und dann war mit einem Schlag sowieso alles aus. Am 25. April
1986 haben sie die helle Strahlenwolke am Himmel gesehen. Wahrscheinlich sind
sie noch auf die Dächer ihrer Katen gestiegen, um sie besser sehen zu können.
Was haben sie gedacht? Dass eine Mondrakete startet? Dass das Chemiekombinat in
die Luft fliegt? Dass ein Krieg ausgebrochen ist? Egal, was sie sich auch
vorgestellt haben – dass sie in wenigen Tagen ihre Häuser würden verlassen
müssen und nichts mitnehmen dürften, weil alles verstrahlt war, das haben sie
bestimmt nicht gedacht in diesen Stunden. Die Stadt. Die schöne neue Stadt, in
der alle Wohnungen fließendes Wasser und Heizungen hatten, in der es
Spielplätze gab für die Kinder und ein Schwimmbad, aus ihr mussten alle
Menschen weg. Sogar einen Park mit Riesenrad hatten sie in Prypjat.
    Was hat diese Verrückte in ihrer schwarzen Lederkluft jetzt hier zu
erledigen? Als sie den Motor abstellt, schlägt ihnen die Stille entgegen,
dieses Fehlen von Geräuschen, das Wiktor kennt, aber nicht ertragen kann. Ein
Schatten bewegt sich drüben am offenen Scheunentor. Ein Fuchs vielleicht oder
eine Katze. Wiktor beginnt, ein Lied zu pfeifen, eines von denen, die seine
Mutter ihm als Kind vorsang.
    »Halt den Mund«, herrscht die Frau ihn an.
    »Wen stört es, wenn ich hier pfeife?«
    »Mich«, sagt sie und öffnet eine der Seitenboxen ihrer Kawasaki,
kramt darin herum, ohne etwas herauszunehmen. Sie will offenbar nicht, dass er
ihr dabei zusieht. Er tut ihr den Gefallen und geht auf das Gestrüpp am anderen
Straßenrand zu.
    »Wo willst du hin?«, fragt sie barsch.
    »Pissen, wenn’s recht ist.«
    Er wendet sich ab, aber nur so weit, dass er sie weiterhin aus den
Augenwinkeln beobachten kann. Sie nimmt ein Plastiksäckchen aus der Box und
schließt sie wieder ab. Dann schaltet sie ihren Geigerzähler an, der knattert,
aber nicht übermäßig laut. Sie geht auf das Häuschen mit den kaputten
Fensterläden und dem bemoosten Dach zu. Bewegt sich da etwas am Fenster?
    Wiktor zündet sich eine Zigarette an. Als die Frau den
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