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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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Eingang
erreicht, öffnet sich die Tür. Es stimmt also, was man sagt. Es leben immer
noch Menschen hier in der Zone. Von der Welt verlassen, von den Behörden
aufgegeben. Ein altes Mütterchen streckt den Kopf heraus. Sie ist ganz grau,
ein schwarzes Kopftuch mit verblassten roten Blumen fasst ein faltiges
bäuerliches Gesicht mit breiter Nase ein. Ihren wattierten Mantel mit den
aufgenähten Flicken trägt sie wie einen Schutzanzug. Sie dreht den Kopf zu ihm.
Er hebt die Hand, aber sie reagiert nicht. Die Strahlenwerte auf dem Display
ihres Messgeräts prüfend, folgt die Motorradfahrerin der Alten ins Haus.
    Schwarzes Feld oder weißes. Die Zone ist wie ein Schachbrett. Es
gibt Felder, die so stark verstrahlt sind, dass Menschen dort nicht lange
überleben können. Auf den weißen Feldern hält man’s länger aus. Nicht jeder.
Sie leben von dem, was der Boden gibt, was sie in den Wäldern finden, die hier
in ein paar Jahren alles überwuchert haben werden. Die Bäume wachsen durch
Fußböden und sprengen irgendwann die Dächer, wenn sie nicht von selbst
einstürzen. Auch im Asphalt tun sich Trichter auf, aus denen kleine Bäume wachsen.
Für Autos sind manche Strecken schon unpassierbar geworden. Die Verrückte auf
ihrem Motorrad kann noch ausweichen und Hindernisse umfahren. Irgendwann wird
sie absteigen müssen. Wenn sie dann überhaupt noch fährt.
    Was hat sie der Alten mitgebracht? Essen kann es nicht sein, und wenn,
dann nur eine mickrige Portion. Das Säckchen war klein, sah aus wie eine Tüte
aus der Apotheke. Bestimmt ist die Alte krank oder ihr Mann, der vielleicht
auch noch hier lebt.
    Wiktor geht zu der Scheune, in der er den Schatten gesehen hat. Er
horcht. Ist da ein leises Schaben, oder bildet er sich das nur ein? Ein Bewegen
von Stroh oder Heu. Als er einen Schritt ins Halbdunkel macht, springt ihn
etwas an und streift ihn an der Hand. Das Tier ist so schnell im Gebüsch verschwunden,
dass er nicht erkennen kann, was es gewesen ist: Katze, Marder, Frettchen oder
eine riesige Ratte. Er saugt an dem blutenden Kratzer an seiner Hand und spuckt
das Blut aus. Dann geht er zum Haus und schaut durchs Fenster, das noch intakt
ist.
    Das Mütterchen und die Motorradfahrerin sitzen am Tisch, auf dem
einige Tablettenpäckchen liegen, daneben ein brauner DIN-A 5-Umschlag.
Die Alte schiebt ihn mit ihren Pergamenthänden zu der Motorradfahrerin hinüber.
Bevor die den Umschlag öffnet, sieht sie zum Fenster und gibt ihm mit einer
Handbewegung zu verstehen, dass er sich verziehen soll. Na, die ukrainische
Gastfreundschaft hat jedenfalls auch Schaden genommen mit der Katastrophe.
    Wiktor geht ein paar Schritte und legt sich dann neben das Motorrad
auf die Straße. Die Strahlung ist durch den Asphalt in die Erde gedrungen. Es
ist besser, auf dem Asphalt zu liegen als auf dem Waldboden. Der Himmel ist
unbarmherzig leer.
    »Los, wir fahren«, sagt die Motorradfahrerin und kickt ihn mit ihrem
Stiefel in die Seite. Wiktor rappelt sich auf und sieht die Alte in ihrem
kleinen Vorgarten stehen, eine Hand auf die einzige verbliebene Zaunlatte
gestützt. Die Motorradfahrerin bemüht sich, lässig zu wirken, aber Wiktor
sieht, dass sie die Augen zusammenkneift.
    »Sie wird sterben«, sagt er.
    Sie antwortet: »Alle werden wir sterben, irgendwann.«
    »Ja, aber sie stirbt bald.«
    Sie setzt den Helm auf, dann dreht sie sich zum Haus und winkt der
Alten, die regungslos dort steht und sie beobachtet. Schließlich startet das
Motorrad, die junge Frau fährt los, und Wiktor spürt, wie sie schluchzt.
    Sie fahren einige Kilometer durch den Wald. Efeuranken kriechen wie
Zündschnüre über den Asphalt. Sie fährt nun langsamer. Ihre Lust auf
Geschwindigkeit scheint ein wenig abgekühlt.
    Als sie aus dem Wald kommen, zeigt der Geigerzähler kaum Radioaktivität
an, und die Frau bleibt stehen. Sie nimmt den Helm ab, und Wiktor sieht, dass
ihre Augen rot sind vom Weinen. Und trotzdem lacht sie.
    »Die Alte, ich trau ihr alles zu. Vielleicht lebt sie noch ein Jahr,
die ist verdammt zäh, du hast ja keine Ahnung.«
    Wiktor nickt. »Ja, vielleicht.«
    »Ich fahre nach Kiew. Wenn du willst, kannst du mitfahren. Ob ich
dich nun beim Posten abgebe oder dich noch bis Kiew am Hals habe, ist jetzt
auch schon egal.«
    »Gut, ich fahre mit nach Kiew. Dort lade ich dich ins Café Puschkin
ein. Einverstanden?«
    Sie setzt ihren Helm wieder auf.
    »Ich heiße Wiktor.« Er weiß nicht, ob sie ihn gehört hat. »Wie heißt
du?«, fragt
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