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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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den
Felswänden jedoch vielfach zurückgeworfen wird, stürzt er zusammen mit dem
nutzlos gewordenen Seil in die Tiefe. Er schlägt um sich wie ein Tier, gibt noch
nicht auf. Versucht, nach irgendetwas zu greifen, einen Felsvorsprung zu
erreichen, an dem er sich festhalten könnte, windet sich, lehnt sich gegen das
Gesetz der Schwerkraft auf.
    Da bekommt er etwas zu fassen, eine Felsnase. Der Schwung des Sturzes droht
ihn fortzureißen, aber er krallt seine Finger um das Stück Stein und wird es
nicht mehr loslassen, obwohl es die Hand mit den beiden gebrochenen Fingern
ist. Der Schmerz raubt ihm fast die Sinne. Er hängt mit der linken Hand, sucht
mit der rechten, aber der Fels zieht sich zurück an der Stelle, und der kleine
Vorsprung, den er zu fassen bekommen hat, bietet nicht genügend Fläche für
seine andere Hand.
    Er schwingt sich mit den Beinen Richtung Fels, vielleicht kann er einen
Fuß einklemmen, aber er erreicht ihn nicht, sucht wieder mit der rechten Hand,
greift hinein, und ein paar Brocken lösen sich, er spürt sie über den
Handrücken streichen. Er merkt, wie die Kraft aus seinem Arm weicht. Er hängt
ruhig, ohne Bewegung, untersucht den Fels im Schein der Stirnlampe. Entdeckt
eine Stelle, nach der er vielleicht greifen könnte. Da merkt er, wie sich der
Brocken in seiner Hand bewegt. Der Fels gibt nach, bricht, er findet keinen
Halt, fällt wieder hinaus in den dunklen Schacht, den Felsbrocken in der Hand.
Er fällt mit den Füßen voran. Das LED -Licht seiner
Stirnlampe saust mit steigender Geschwindigkeit nach unten. Es gibt keinen
Widerstand mehr.
    Sein Körper durchschneidet die Luft wie ein Schwert. Ein Schrei gellt aus
seiner Brust. Wie lange wird er noch fliegen, im Sturzflug wie ein Falke, der
auf seine Beute herabstößt? Er ist kein Falke, er hat keine Flügel, er wird
sich nicht mehr hinaufschrauben mit der Beute in den Fängen. Oder sind ihm
Flügel gewachsen? Wann ist das Ende erreicht? Ist es ein Traum? Wohin? Fallen.
Es dauert so lang. Er hat das Gefühl, als beginne sein Körper sich aus der
Senkrechten zu drehen. Ein Schwindel, Übelkeit, ich liege, ich muss auf die
Füße. Ich muss.
    Milz und Leber sind die ersten Organe, die reißen, der Bauch platzt auf.
Der Schädel zerbirst. Das Herz explodiert. Es dauert nur Bruchteile von
Sekunden.
    ***
    Sepp Aschenbrenner ist schon vor Sonnenaufgang vom Carl-von-Stahl-Haus
über das Hohe Brett zum Göll aufgebrochen. Er liebt diese frühen Aufstiege,
wenn er sich die Berge nur mit den Tieren teilen muss, die Jungtiere in den
vorbeiziehenden Gamsherden zählen, eine Geiß beim Säugen ihres Kitzes
beobachten kann. Später am Tag, wenn die Wanderer kommen, ziehen sich die Tiere
in entlegenere Gebiete zurück, und man braucht schon ein Fernglas, wenn man sie
so beobachten will, wie Aschenbrenner das am frühen Morgen mit bloßem Auge tun
kann.
    Als er am Eistrichter ankommt, ist es bereits taghell. Er erreicht das
schmale Felsband, auf dem er an der Randkluft vorbei zum Göll hinaufsteigen
will, da sieht er etwas am Boden liegen. Er geht näher heran.
    Es ist ein Klemmkeil. Daran hängt ein kurzes Stück Seil. Aus
sicherer Entfernung schaut er über die Randkluft hinunter in den Trichter, kann
jedoch nichts erkennen. Er ruft hinunter, bekommt keine Antwort. Es kommt ihm
merkwürdig vor, und er verständigt die Bergwacht.
    Sepp Aschenbrenner wartet. Trotz der Anspannung spürt er, dass er
Hunger hat. Während er seinen Brotzeitbeutel aus dem Rucksack holt, meint er,
ein Luftzug streife ihn oder ein Schatten fliege an ihm vorbei. Er sieht sich
um, entdeckt einen Kolkraben, der auf einem benachbarten Felsen landet und ihn
stumm beobachtet. Aschenbrenner wirft ihm ein Stück Salami hinüber, und der
Vogel fängt es im Flug. Als das Knattern des Hubschraubers näher kommt, ist er
verschwunden.

Die Zone, 1. Mai 2010
    Die atlantische Strömung staut sich bewegungslos über dem Hoch, das
vom Schwarzen Meer herüberkommt. Der Luftdruck steigt, keine Wolke ist am
Himmel zu sehen; ein leichter Wind bewegt sich von Süd-Ost nach Nord-West, wo
er sich mit der atlantischen Strömung vereinigt.
    Ideales Flugwetter. Dreißig Mi-6-Militärhubschrauber sind die ganze
Nacht bei Scheinwerferlicht geflogen, um den havarierten Reaktorteil zu
sichern. Jetzt stehen sie am Boden. Die größten Hubschrauber der Welt, so groß
und stark, dass sie mit Lastwagen beladen abheben können. Kaum ist die Sonne
über der Ebene aufgegangen, wechseln die Besatzungen. Sie
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