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Hirschgulasch

Hirschgulasch

Titel: Hirschgulasch
Autoren: Graf-Riemann/Neuburger
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von seiner Frau erzählte. Manchmal
hatte sie sogar das Gefühl, als würde sie seine Frau selbst kennen. Nicht so
wie er, natürlich nicht. So wie eine Freundin oder eine Schwester. Irgendwie
kam es Luba so vor, als gehörten sie beide zu einer Familie, zu der eben auch
Ilya und seine Tochter gehörten. Mit einem anderen Mann hätte Luba sich nie auf
eine solche Ménage à trois eingelassen. Und bevor sie Ilya kennenlernte, hatte
sie auch nie von einem Mann geträumt, der zwanzig Jahre älter war als sie
selbst. Fast so alt wie ihr Vater. Was hätte er sie ausgelacht, wenn sie ihm
davon erzählt hätte.
    »Lubotschka, nimm dir doch einen jungen, saftigen Kerl«, hätte er zu
ihr gesagt. »Was willst du mit so einem alten Knacker? Mit deinem Vater
möchtest du doch auch nicht ins Bett gehen, stimmt’s?« Sie hat es ihm nie
erzählt. Und auch sonst niemandem. Es war ihr Geheimnis. Er war ihr Geheimnis.
Und sie war so glücklich mit ihm wie mit keinem Mann davor und danach.
    Ilya kam einmal die Woche nach Kiew. Er war Arzt im Kraftwerk, auch
damals, als das Unglück geschah, und einmal in der Woche hatte er Dienst im
Kiewer Krankenhaus.
    Sie trafen sich meist am Nachmittag, schlenderten am Dnjepr entlang,
liebten sich auf einer der Wiesen am Fluss, von Mücken geplagt, in seinem
Wolga, den er aus Sentimentalität immer noch fuhr, obwohl er sich längst einen
deutschen, französischen oder japanischen Wagen hätte leisten können, oder in
der Tiefgarage. Sie liebten sich, wann immer es ging und sooft es ging. Und
wenn er nicht mehr konnte, fuhren sie ins Café Puschkin. Wenn er frei war,
saßen sie immer am runden Tisch im ersten Stock, gleich neben dem
Treppenaufgang. Luba nahm als Erste die Treppe, und immer wenn sie dachte, sie
seien unbeobachtet, hob sie für eine Sekunde ihren Rock, damit er ihren nackten
Po und vielleicht etwas mehr sehen konnte.
    Er bestellte immer Kaffee, schwarz, sie immer heiße Schokolade. Und
dann erzählte sie, und er hörte ihr zu, fragte nach, interessierte sich, wie
sich noch nie ein Mann oder überhaupt ein Mensch für sie interessiert hatte.
    Manchmal, mitten im Gespräch, nahm sie unterm Tisch seine Hand und
führte sie zwischen ihre Schenkel, um ihm zu zeigen, in welcher Erregung sie
sich befand, während sie mit ihm am Tisch saß und redete. Sie erzählte dann
einfach weiter, führte seine Hand wieder über den Tisch, zu ihrem Mund und
glitt mit der Zunge über seine Finger, bevor sie ihn küsste.
    Meist musste er um acht schon fahren, manchmal um neun, und einmal,
nur ein einziges Mal, hatten sie eine ganze Nacht für sich gehabt, in der nicht
die Hälfte von dem passiert war, was beide sich erwartet hatten, weil sie nicht
aufhören konnten, sich aus ihrem Leben zu erzählen.
    Dann aber geschah es: Sie waren verabredet, doch er kam nicht. Sie
hatte keinen Grund, an ihm zu zweifeln, und tat es auch nicht. Sie fuhr in das
Krankenhaus, in dem er arbeitete. Der Portier sagte: »Station 13, Zimmer 11.«
Dort lag Ilya. Er erkannte sie, war aber zu schwach, um etwas zu sagen.
    »Was hat er?«, fragte sie die Ärztin, die gerade eine Infusion
anschloss, als sie zur Tür hereinkam.
    »Ein schwaches Herz. Den Krebs hat er besiegt, aber sein Herz ist
dabei kaputtgegangen. Wer sind Sie?«
    »Ich bin seine Nichte«, log Luba. »Wir waren für heute verabredet.«
    »Ach so.« Die Ärztin musterte sie. »Ist schon gut«, sagte sie. »Ich kenne
Ilya schon sehr lange. Ich kann seine Frau gerade nicht erreichen. Bleiben Sie
bei ihm und nehmen Sie Abschied. Sehen Sie seine Augen, er freut sich, dass Sie
hier sind.«
    Als die Ärztin gegangen war, setzte sie sich an Ilyas Bett, nahm seine
Hand und begann zu erzählen. Von der Zone und dass sie nun bald alle Teile für
das Motorrad hätte und angefangen habe, es zusammenzubauen. Die Straßen in der
Zone waren verlassen. Kein Verkehr, nichts. Sie würde hindurchrauschen wie ein
Donner, wie ein Wirbelsturm, und sie würde dort anhalten, wo es ihr passte. Sie
würde fotografieren und darüber schreiben. In der Werkstatt ihres Vaters hatte
sie sich das Geld für ein Notebook verdient. Und heute hatte sie eines bei
einem Händler bestellt, mit Anzahlung. Sobald es da war, würde sie es immer bei
sich haben, um alles zu notieren und zu bloggen, was ihr wichtig war.
    Er müsse unbedingt gesund werden und mit ihr durch die Zone fahren,
sagte sie zu ihm. Mit dreihundert Sachen würden sie unterwegs sein. Ilyas Hand
zuckte in ihrer. »Du musst dir keine
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