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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe
Autoren: Peter Prange
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hatte der Ort seine Magie verloren? Während der Köter weiter sein Geschäft verrichtete, blickte Harry noch einmal auf das Haus. Von der Höhe des zweiten Stockwerks, zwischen einem Riesen mit mächtiger Knollennase und seiner prallbrüstigen Begleiterin, hielt sich ein Flügelwesen zum Abflug bereit: Dada, der König der Vögel, Harrys Alter Ego. Voller Sehnsucht schaute er in die Ferne, doch wie von bösen Geistern gebannt, war er unfähig, sich in die Lüfte emporzuschwingen. In der Mitte seines Leibs, dort, wo einst seine Männlichkeit gesessen hatte, klaffte ein Loc h – die Wunde, die Laura ihm geschlagen hatte.
    Harry fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Hatte er den Verstand verloren, an diesen Ort zurückzukehren?
    Wie aus einer anderen Welt hörte er auf einmal Lauras Stimme. Zur großen Liebe gehört auch, dass man weiß, wann sie zu Ende is t … Es war wie eine Offenbarung. Nein, es gab keinen Weg zurück, weder in die Vergangenheit, noch zu seiner Windsbrau t – nicht einmal ins Zauberhaus. Laura hatte es immer gewusst, schon in Lissabon, als er an ihrem Krankenbett saß, hatte sie das zu ihm gesagt. Nur er, obwohl so viel älter und erfahrener als sie, hatte über zehn Jahre gebraucht, um diese schlichte Wahrheit zu begreifen. Nicht Krankheit oder Tod hatte sie aus ihrem Paradies vertrieben, sondern die Liebe selbst. Ihr Bewusstsein war der Sprung in der gläsernen Schale des Glücks, der nicht zu reparieren war, ohne dass die Schale zerbrach. So schmerzlich Harry diese Erkenntnis berührte, empfand er zugleich ihre melancholische Schönheit. Auch darin waren die Kunst und die Liebe eins. Es gab sie nur einmal, unwiederbringlich, in der Ewigkeit eines Augenblicks, und nichts und niemand auf der Welt hatte die Macht, diesen Augenblick zurückzurufen. Wer es versuchte, zerstörte für immer das Glück, das er einmal besessen hatte.
    »Die Nacktheit der Frau ist weiser als die Lehre des Philosophen«, murmelte er.
    »Wie bitte?« Monsieur Cheval starrte ihn an wie einen Irren.
    »Tut mir leid«, erklärte Harry. »Ich fürchte, die Sache hat sich erledigt.«
    Ohne sich zu verabschieden, wandte er sich ab und stolperte davon, den Weinberg hinunter zur Straße. Er musste zurück nach Paris, so schnell wie möglich, zurück in sein Atelier, zurück an seine Staffele i – den einzigen Ort auf der Welt, wo er wirklich zu Hause war.
    Noch hatte Harry kein Bild im Kopf, nur eine Ide e – jenen Traum von einem Gedanken, der eben in ihm aufgestiegen war. Trotzdem wusste er schon jetzt, dass es ein großartiges Bild werden würde.

Nachbemerkung
    Himmelsdiebe ist die Geschichte einer Jahrhundertliebe: die Geschichte zweier Menschen, die mit ihrer Liebe und ihrer Kunst das Licht der Menschlichkeit am Leben erhielten in einer der finstersten Epochen Europas. Mit ihren Hoffnungen und Ängsten, mit ihren Zweifeln und Verzweiflungen, mit ihren Sehnsüchten und Ausflüchten verkörpern und kommentieren sie das Schicksal eines ganzen Kontinents, in der Mitte des 20 . Jahrhunderts.
    Dennoch ist dieser Roman, obwohl er Motive aus dem Leben real existierender Personen aufgreift, keine Tatsachen-Biografie. Vielmehr ist er das in künstlerischer Freiheit gestaltete Porträt zweier Liebender, vergleichbar einem Porträt in der Malerei: eine Komposition aus realistischer Wiedergabe von Fragmenten belegter Sachverhalte sowie frei erfundenen Elemente n – keine Abbildung bloßer Fakten, sondern eine Verdichtung von Tatsachen und Legenden, von Geschehnissen und Deutungen, von Überliefertem und Imaginiertem.
    In dieser Verschmelzung von »Dichtung und Wahrheit« weiß ich mich eines Sinnes mit dem Prototypen meines männlichen Protagonisten. Dieser hat für seine Biographischen Notizen den Untertitel »Wahrheitsgeweb e – Lügengewebe« gewählt, um den künstlerischen Prozess zu kennzeichnen, in dem er selbst die Daten seiner Vita interpretierenden Veränderungen unterzog, um so die eigene Identität im Auf und Ab des Lebens nach einem Idealmuster zu rekonstruieren. Und ähnlich der von ihm entwickelten Technik der Frottage, bei der durch Schraffieren die Seele eines Werkstoffs auf das Papier gebannt wird, um aus den so gewonnenen Strukturen etwas Neues entstehen zu lassen, habe ich versucht, gleichsam meinen Papierbogen über den Stoff seiner Vita zu legen, um diesen schreibend weiterzuentwickeln und zu gestalten, als einen in sich geschlossenen Erzählkreis, der den
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