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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe
Autoren: Peter Prange
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meines Lebens.« Er fasste sie bei den Schultern und sah ihr ins Gesicht. »Hast du schon einen Namen?«
    Laura dachte nur einen Augenblick nach. »Wenn es ein Mädchen wird«, sagte sie, »würde ich es gerne Mathilde nennen.«
    »Und bei einem Jungen?«
    Das Bild eines Schaukelpferdes blitzte eine Sekunde vor Lauras innerem Auge auf. Ein kleiner Junge, der ihm seinen Namen gab. Doch sie verwarf den Gedanken so schnell, wie er ihr gekommen war. Die Zeiten waren vorbei.
    »Ich bin sicher«, sagte sie, »uns wird schon ein passender Name einfallen. »Hauptsache, wir vergessen nie, was anfangen heißt.«
    2
    Von alledem hatte Harry nicht die leiseste Ahnung, als er viele Tausend Kilometer entfernt, am anderen Ende der Welt, aus einem verbeulten, mit Schulkindern und Marktfrauen, Weinbauern und Wandertouristen vollgestopften Omnibus stieg, der ihn von Avignon nach Sainte-Odile gebracht hatte. Seit seiner Flucht bei Nacht und Nebel aus dem Dorf, im Cabrio von Maître Simon, war es das erste Mal, dass er hierher zurückkehrte: an den Ort, an dem er so glücklich gewesen war wie an keinem anderen Ort der Welt in seinem Leben.
    Ein wenig beklommen, fast ängstlich, schaute er sich um. Würde die Realität der Erinnerung standhalten?
    Während die Luft über dem Tal vor Hitze im Sonnenlicht flirrte, sog er den vertrauten Duft von Lavendel und Thymian ein. In den Gräsern und Büschen zirpten wie früher die Zikaden, und auch das Dorf, das am anderen Ufer des ausgetrockneten Flussbetts im Schutz der schrundigen, zerklüfteten Felswand vor sich hinträumte, schien unberührt von den Wechselfällen der Zeit. Alles war wie damals, als Laura und er den Bus zum ersten Mal hier verlassen hatten, eine Station vor dem Dorf, um die letzten Meter zu Fuß zu gehen. Nur, dass er diesmal allein gekommen war.
    Sollte er erst einen Gang durchs Dorf machen? Um zu schauen, was sich verändert hatte und was geblieben war? Harry beschloss, gleich hinauf zum Zauberhaus zu gehe n – schließlich hatte er dafür die lange Reise unternommen. Abgesehen von ein paar Weinbauern, mit denen er auch früher nicht viel zu tun gehabt hatte, gab es sowieso keinen Menschen mehr in Sainte-Odile, den er noch kannte. Lulu war letztes Jahr an einem Schlaganfall gestorben, Pepe lebte angeblich in irgendeinem Heim für Gehörlos e – und Maître Simon, mit dem Harry von Amerika aus telefoniert hatte, betrieb inzwischen eine Rechtsanwaltskanzlei in Marseille. Nein, er könne ihm nicht weiterhelfen, hatte der Notar am Telefon gesagt, er habe das Haus nach Kriegsende verkauft. Gaston Cheval heiße der neue Besitze r – ein Futtermittelhändler aus Aix. Das Fräulein von der Auskunft würde ihm sicher weiterhelfen.
    Monsieur Cheval, ein freundlicher, wohlbeleibter Mann Mitte fünfzig, erwartete ihn bereits im Hof, zusammen mit einem schwanzwedelnden Hütehund. Harry hatte ihn von Avignon aus angerufen, um sein Kommen anzukündige n – von seiner Kaufabsicht hatte er ihn bereits von Paris aus informiert. Der neue Besitzer des Hauses hatte sich verhandlungsbereit erklärt.
    »Willkommen in der alten Heimat, Monsieur Winter.«
    Zu Harrys Überraschung waren die meisten der Figuren, mit denen er die Fassade des Hauses versehen hatte, um es gegen die Dämonen der Wirklichkeit zu schützen, noch so erhalten, wie er sie in Erinnerung hatte. Nach wie vor beherrschten all die Sphinxe und Minotauren, die Riesen und Sirenen mit ihrer Magie den Ort, an dem Laura und er die Liebe neu erfunden hatten. Von jeder Brüstung, von jedem Fenstersims, von jeder Mauer beugten sie sich über ihn herab, wie ein phantastischer Stammesrat, um ihn mit strengen Blicken zu prüfen. Nur wo früher das Mirakelkraut wuchs, befand sich heute ein reinliches, frisch gejätetes Gemüsebeet, auf dem, wenn Harry sich nicht täuschte, Kartoffeln und Möhren gezogen wurden.
    »Bewohnen Sie selber das Haus?«, wollte er wissen. »Oder haben Sie es vermietet?«
    »Weder noch.« Monsieur Cheval schüttelte den Kopf. »Ich habe damals das Haus gekauft, um an den Wochenenden mit meiner Familie hierherzukommen. Meine Frau arbeitet gern im Garten, und ich kann mich hier wunderbar entspannen. Aber seit die Kinder erwachsen sin d …« Er trat an das Haus und holte sein Schlüsselbund aus der Tasche. »Wenn Sie erlauben.«
    Quietschend öffnete sich das Tor. Der Keller war stockdunkel und roch nach Schimmel, aber als das Licht anging, machte Harry eine Entdeckung, die ihn wie ein wunderbarer Traum umfing. Am
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