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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe
Autoren: Peter Prange
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zufolge kannibalischen Ursprungs war. Gleich nach dem Frühstück hatte sie mit der Arbeit begonnen. Sie und ihr Mann erwarteten am Abend zwei Dutzend Geburtstagsgäste, und ein gutes Molé musste mindestens sechs Stunden auf dem Herd garen. Beim Kochen in ihrer Küche ging Laura inzwischen mit der gleichen Sorgfalt vor wie beim Malen in ihrem Atelier. Die Vorbereitung eines Molé hatte für sie etwas Meditatives, ja Feierliches, wie die Vorbereitung einer heiligen Handlung. Als beste Grundlage für das Ragout hatte bei den Azteken schließlich ein katholischer Erzbischof gegolten.
    »Komm schon!«, drängte ihr Mann. »Jetzt sag endlich! Was ist die große Überraschung, die du mir versprochen hast?«
    »Nein, Pawel, erst will ich die Glückwünsche lesen. Du kennst doch meine Rituale.«
    »Dann hoffe ich nur, dass der Postbote bald kommt.«
    Mit einer Gemüsebürste reinigte sie eine Paprika, bevor sie die sonnenpralle Frucht in Streifen schnitt. Sie hatte früher nie besonderes Aufheben um ihren Geburtstag gemacht. Doch seit der Arzt ihr gesagt hatte, sie habe den Kampf gegen die Sache gewonnen, hatte dieser Tag für sie eine vollkommen neue Bedeutung. Die Götter hatten ihr zum zweiten Mal das Leben geschenk t … Kein anderer Tag war darum besser geeignet, Pawel zu sagen, was sie selbst erst seit achtundvierzig Stunden wusste.
    War das nicht Grund genug, ausnahmsweise von ihrem Ritual abzuweichen?
    »Also gut.«
    Sie streifte das zerkleinerte Gemüse in eine Schüssel und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Doch als sie sich vom Tisch erhob, klingelte es an der Tür.
    »Ausgerechnet jetzt!«, brummte Pawel.
    »Pech gehabt«, lachte Laura, »die Götter haben anders entschieden.«
    »Du und deine Götter«, erwiderte ihr Mann. »Na schön, dann gehe ich so lange ins Atelier und räume ein bisschen auf. Unsere Gäste wollen sicher heute Abend deine neuen Maya-Bilder sehen.«
    Während er die Treppe hinauf verschwand, öffnete Laura die Haustür. Der Postbote war schon wieder fort, aber der Briefkasten quoll von seiner Hinterlassenschaft über. Laura nahm das dicke Bündel Post und setzte sich die Brille auf, die sie seit ein paar Monaten brauchte. Als Erstes wollte sie Robertos Glückwünsche lesen, wie jedes Jahr. Sein Brief war nicht zu übersehen: eine aufklappbare, überdimensionale Schmuckkarte mit goldenen Lettern und aufgeklebten bunten Glasperlen, die in der Sonne glitzerte und funkelte wie der Altar Unserer Lieben Frau von Guadalupe. Meine Sternschnuppe … Noch immer sprach er sie mit diesem Kosenamen an, obwohl Laura sich nur wenige Monate nach der Ankunft in Mexiko von ihm getrennt hatte. Er war ein herzensguter Kerl, doch sie hatte ihn nie wirklich geliebt. War das ein Wunder? Pawel, den neuen Mann in ihrem Leben, hatte sie bei einem Interview kennengelernt. Er war ein in Polen gebürtiger Journalist und hatte sie für eine große Tageszeitung porträtiert. Sie hatten sich auf Anhieb so gut verstanden, als würden sie sich seit einer Ewigkeit kennen. Mit ihm konnte sie auf Erden alt werden, ohne den Himmel ihrer Jugend zu verleugnen.
    »Was meinst du, sollen wir das nicht im Wohnzimmer aufhängen?«
    Pawel stand auf dem Treppenabsatz vor dem Atelier und hob mit beiden Armen Lauras neuestes Bild in die Höhe: El mundo mágico – ein großformatiges Gemälde, das sie der Geisterwelt der mexikanischen Ureinwohner gewidmet hatte.
    »Lieber nicht«, erwiderte sie. »Dann reden heute Abend alle nur über das Bild, und kein Mensch interessiert sich mehr für mein Molé. Außerdem mögen die Götter es nicht, wenn man sie dauernd verpflanzt. Häng es wieder an seinen Platz.«
    Im Stehen überflog sie die Absender der Gratulanten. Die meisten Glückwünsche stammten von Galeristen und Verlagen, nicht nur aus Mexiko, auch aus Amerika und Europa. Sowohl als Malerin wie auch als Schriftstellerin hatte sie inzwischen fast weltweit Anerkennung gefunde n – Dutzende von Interviews hatte sie am Vortag gegeben, sogar das Fernsehen war zu Aufnahmen in ihr Haus gekommen. Nur einer hatte nicht gratuliert: Harry. Seit ihrer Trennung hatten sie einander weder gesehen noch geschrieben. War er immer noch verletzt, weil seine Windsbraut aus dem Schatten des Großen Zauberers getreten war? Oder wusste er, dass der Abschied von ihm das einzige Tor gewesen war, durch das sie hatte schreiten müssen, um ein neues, eigenes Leben zu beginnen? Er hatte es bei ihrer ersten Begegnung selbst gesagt: » Mors porta vitae. Die
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