Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)

Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)

Titel: Hilf mir, Jacques Cousteau: Roman (German Edition)
Autoren: Gil Adamson
Vom Netzwerk:
neu und hat Otto, für den er so lobende Worte findet, nie gekannt. Als er zum Ende kommt, brodelt es überall in den Kirchenbänken vor Unruhe. Denn es ging hier um Otto, der mit siebenundachtzig Jahren im Kiefernwäldchen auf halbem Weg nach Hause, nach Fusel stinkend, endlich tot umgefallen ist. Otto, der mit Gegenständen um sich warf, der ständig die Mädchen in der Stadt belästigte und seine vielen Kinder tyrannisierte, der den Leuten Geld abquatschte, das er nie zurückzahlte. Otto, der einem Barmädchen eine Zigarette in den Ausschnitt geworfen hatte. Otto, der in der Kirche soff; der Boden rings um seine Organistenbank faulte von dem Schleim, den er ausspuckte. Otto, den die Kinder in der Stadt »Haste-mal-’n-Nickel« nannten.
    Auf dem anschließenden Empfang drängen wir uns alle wie eine Viehherde zusammen, falls jemand kommt und uns fragt, was wir hier zu suchen haben oder welche Verbindung wir zu dem Verstorbenen hatten. Einer nach dem anderen sehen wir auf die Uhr, denn uns steigt quälend der köstliche Duft von Truthahn, Rinderbraten und dampfendem Gemüse in die Nase.
    »Also, ich glaube nicht, dass Otto etwas dagegen hätte, wenn wir jetzt essen würden, was meint ihr?«, sagt Merry schließlich leise und verschämt.
    Zu unserem heimlichen Vergnügen haben wir alle entdeckt, dass Merry ein Vielfraß ist. Aufgebracht und ungeduldig versucht sie jetzt, den Weihnachtspudding mit ihrem Plastikfeuerzeug anzuzünden, aber der Alkohol will nicht brennen. Sie wollte schon aufgeben und ihn unflambiert essen, aber dagegen wurde protestiert. Netty gießt immer mehr Rum über den Pudding, der inzwischen in einer zentimetertiefen Lache steht. Meine Mutter sitzt neben mir und hält die Serviette bereit, falls sich jemand die Augenbrauen versengt. Der Lärm grenzt wie üblich, wenn Castor dabei ist, ans Unerträgliche. Zum Glück haben wir einen kleinen Nebenraum für uns alleine.
    Ein unverschämt gut aussehender Kellner schlendert hinter unseren Stühlen herum, gibt Merry hilfreiche Ratschläge, stolpert über eingewickelte Geschenke und sorgt allgemein für Ablenkung. Er hört auf den Wahnsinnsnamen Felton, spricht Englisch und hat keine Ahnung vom Küssen. Sein Atem schmeckt, wie ich herausgefunden habe, nach Kirschen. Verträumt betrachte ich im flackernden Kerzenschein und der gedämpften Deckenbeleuchtung sein langes Gesicht. Felton zwinkert mir zu, und meine Mutter ertappt ihn dabei; er wird rot, schnappt sich ein paar leere Gläser und stürzt hinaus.
    »Er heißt Felton«, erkläre ich meiner Mutter, und sie lässt einen beifälligen Blick auf mir ruhen.
    Es scheint ihr allmählich zu dämmern.
    Ich trinke noch einen Schluck Wein und frage mich seufzend, wann wir die Geschenke auspacken. In den letzten paar Minuten hat mich mein Vater immer wieder leicht getreten, während er eine bequeme Schlafposition suchte, und nun sieht es so aus, als hätte er sie gefunden. Seine Gabe zu schlafen verblüfft mich immer wieder. Castor lacht Bishop höhnisch aus.
    »Du Spatzenhirn!«, brüllt er. »Du glaubst wohl an das Monster von Loch Ness.«
    »Hör mal, das gibt’s wirklich!« Bishop grinst.
    »… und an Ufos und Gespenster. Und wahrscheinlich betest du auch. Betet er, Merry?«
    »Ach, du Arschloch«, sagt Bishop. Merry blickt von dem alkoholdurchtränkten Klumpen auf, in ihrer Hand zischt immer noch das Feuerzeug.
    »Was ist am Beten so lächerlich?« Sie richtet diese Frage an Bishop nicht weniger als an Castor.
    »Ignorier ihn einfach«, sagt Netty. »Er lästert bloß mal wieder.«
    Wir müssen die schlimmsten Gäste im ganzen Hotel sein, wahrscheinlich der Grund, warum wir unseren eigenen kleinen Speiseraum haben. Trotzdem fühle ich mich eins mit der Welt. Ich habe mehr Wein getrunken, als ich gewohnt bin, und alles kommt mir ausnahmsweise einmal liebenswert, fröhlich, sicher und geborgen vor. Ich sehe meine Mutter an, die ich manchmal sehr vermisse, und Andrew, dessen Körper sich von Woche zu Woche zu verändern scheint, und einen Augenblick lang wünsche ich mir, wir könnten alle so bleiben, wie wir jetzt sind. Ich denke: Wäre es nicht schön, wenn wir alle plötzlich sterben würden, schmerzlos und ohne es mitzukriegen, wenn wir als Geister weiterleben, miteinander essen, streiten und niemals altern würden? Das wäre doch was! Ich denke an meine Großeltern, die alt und gaga geworden sind, aber noch keinen einzigen Gedanken ans Sterben verschwendet haben. Und ich frage mich, ob Otto irgendwo
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher