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Hesse-ABC

Hesse-ABC

Titel: Hesse-ABC
Autoren: Gunnar Decker
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»Candide« ist eine bitterbös-tiefsinnige Parodie auf das
    Leibnizsche Ideal der »besten aller Welten«, auf die barbarischen
    Störungen eines wohlgeordnet-zivilisierten Weltzustandes, die die
    Emphatiker der Vernunft nicht sehen wollen. Den Generaleinwand
    gegen die Verstandeskultur hat Rousseau formuliert: Eigentum ist
    Diebstahl! Versöhnung des Menschen mit sich finde nur im Ein-
    klang mit der Natur, nie gegen sie statt. Der rousseausche Stachel
    von Zivilisationskritik sitzt bis heute tief in unserer Aufklärungs-
    kultur. Das, was Hesse an der ↑ Romantik so hochschätzt, ist eben ihr Sinn für Natur, für die Metamorphosen des einzelnen, der sich
    durch die weiten Maschen des Zivilisationsnetzes gefallen sieht.
    Hier erst wächst der Sinn für die Notwendigkeit von Kunst als ei-
    ner ideellen Gegenwelt. Hesse, dem eine Versöhnung von Natur
    und Kultur, von Einzelnem und Gesellschaftsganzem als Ideal vor-
    schwebt (der darum das Mittelalter hochschätzt!), sieht in der
    westlichen Zivilisation auch immer die Entfremdung des Men-
    schen von sich selbst in ein Regelwerk gebracht. Seine Frage an
    die Zivilisation stellt er darum ungewöhnlich scharf: »Ich meine
    das Problem des Menschen und seiner Kultur überhaupt, die alte
    böse Frage, ob wirklich der Mensch eine Höchstleistung der Natur
    darstelle, ob seine Kultur etwas anderes sei als eine arge Versün-
    digung an der Mutter Natur, und ob er nicht vielleicht am Ende
    nur ein gefährliches, kostspieliges und mißglücktes Experiment
    sei. Denn wir sehen, daß keine Zivilisation möglich ist ohne Ver-
    gewaltigung der Natur, daß der zivilisierte Mensch allmählich die
    ganze Erde in eine langweilige und blutlose Anstalt aus Zement
    und Blech verwandelt, daß jeder noch so gute und idealistische
    Anlauf unweigerlich zu Gewalt, zu Krieg und Schmerzen führt...«

    Zuflucht
    Ein romantischer Traum – diese Hoffnung auf einen Platz, wo die
    Welt mit all ihrem Lärm und Unfrieden nicht hinreicht, der Dichter
    ungestört ist: »Die Zuflucht sah zu verschiedenen Zeiten sehr ver-
    schieden aus. Bald war sie ein Häuschen am Vierwaldstättersee
    mit einem Ruderboot... Bald war sie eine Holzknechthütte in den
    Alpen mit einem Schrägen zum Schlafen, vier Stunden vom näch-
    sten bewohnten Haus entfernt. Dann war es eine Höhle oder eine
    kleine Ruine in den Felsen des Süd-Tessins, nah am lichten Kasta-
    nienwald, so hoch gelegen wie die höchsten Reben, mit oder ohne
    Fenster und Tür. Ein anderes Mal war die Zuflucht ein Schiffsbil-
    lett, gültig für eine kleine Kabine auf einem Schiff ohne andere
    Passagiere, für eine Seefahrt von drei Monaten, einerlei wohin.
    Und manchmal war es noch bescheidener, war nur ein Loch in der
    Erde, ein kleines Grab, gut oder schlecht geschaufelt, mit oder
    ohne Blumen drüber, mit oder ohne Sarg.«
    Das Schlimmste für solche Träume ist ihre Erfüllung. Da zerplatzt
    der Traum, denn die Idylle ist allzeit die größte Lüge. Hesse, der
    1916 in Bern den kleinen Text »Die Zuflucht« schreibt, verabschie-
    det sich hier, inmitten des Krieges, auch von seiner heilen »Ca-
    menzind«-Welt, die er in Gaienhofen zu leben versucht hatte, von
    seiner Existenz als bürgerlicher Schriftsteller, der seinen staats-
    bürgerlichen ebenso wie seinen familiären Pflichten fehlerfrei
    nachkommt: »Die ›Zuflucht‹ würde mich nicht heilen, die Schmer-
    zen würden im Wald und in der Hütte nicht vergehen, ich würde
    dort nicht mit der Welt eins werden und mit mir selber nicht in
    Ordnung kommen.« Der Traum darf, inmitten des traumlosen
    Weltgetriebes, weiter geträumt werden. Vor seinen falschen Erfül-
    lungen jedoch müssen wir ihn – und uns – schützen.

    Zürich
    Hier verbringt Hesse die Wintermonate zwischen 1925 und 1932.
    Er entflieht der Winterkälte in der ↑ Casa Camuzzi. H esse will sich amüsieren, aber erschreckt bemerkt er, daß er diese Kunst überhaupt nicht beherrscht. Zu sehr ist er der vergrübelte Außenseiter,
    als der er sich im ↑ Harry Haller dem ↑ » Steppenwolf« in dieser Zeit selbst zu porträtieren beginnt. Oft sitzt er – besonders in den ersten beiden Wintern – allein in Kneipen, bevorzugt im Gasthaus
    »Zum Helm«. Er ist depressiv. Da nötigen ihn Freunde zu einem
    ↑ Maskenball im »H otel Baur au Lac«, zu dem er nur widerwillig und unkostümiert geht. Doch dann setzt sich eine als Pierrot verkleidete junge Frau auf seinen Schoß, und Hesses Stimmung bes-
    sert sich. Nun geht er
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