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Herzstoss

Herzstoss

Titel: Herzstoss
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Devon hatte ihren Vater vergöttert, insofern wäre es nicht überraschend, wenn sie Irland als Zufluchtsort gewählt hätte.
    War das der eigentliche Grund für Marcys Reise? Hatte sie irgendwie gewusst, dass sie Devon hier finden würde?
    »Ich habe wohl wirklich ein Gespenst gesehen«, sagte sie, als ihr bewusst wurde, dass Vic auf irgendeine Antwort wartete.
    »So was kommt vor.«
    Marcy nickte und fragte sich, was er über Gespenster wusste. »Wir sollten zurück zu unserem Bus.«
    Er fasste ihren Ellbogen und führte sie behutsam die South Mall zum Parnell Place hinunter. Als sie das verkniffene Gesicht des Führers erblickten, der ungeduldig neben dem wartenden Bus auf und ab lief, war der Regen zu einem leichten Nieseln abgeschwächt. »Es tut mir schrecklich leid, dass wir zu spät kommen«, sagte Marcy, als der Führer sie in den Bus scheuchte.
    »Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein«, drängte er und wies den Fahrer an, den Motor zu starten.
    Marcy spürte die unverhohlene Feindseligkeit ihrer Mitreisenden, als sie zu ihrem Platz eilte. Der Bus fuhr an, und sie stolperte.
    »Vorsicht«, sagte Vic und packte von hinten ihren Mantel, um sie zu halten.
    Was machte er immer noch hier, fragte Marcy sich und schüttelte seinen festen Griff ab. Für einen Babysitter war sie zu alt, und an Ritter in glänzender Rüstung glaubte sie schon lange nicht mehr. Glänzende Rüstungen neigten dazu, ziemlich schnell zu rosten, vor allem im strömenden Regen.
    »Würden Sie bitte so schnell wie möglich Ihre Plätze einnehmen?«, drängte der Führer, während Marcy auf ihren Sitz hinten im Bus kroch, und Vic sich neben sie setzte. »In ein paar Minuten werden wir durch Blarney kommen, das sich einer der imposantesten Burgen Irlands rühmt«, verkündete er im nächsten Atemzug, »von der heute nur noch der Bergfried steht, ein massiver viereckiger Turm mit einer fünfundzwanzig Meter hohen Brüstung. Unterhalb der Zinnen befindet sich der Blarney Stone, von dem man sagt, dass er jedem, der ihn küsst, die Gabe der Rede beschert. Es versteht sich, dass ich ihn schon viele Male geküsst habe.« Er machte eine Pause für Lacher, die pflichtschuldig ertönten. »Das Blarney Castle besitzt eine malerische Gartenanlage, an den Blarney Lake grenzt ein hübsches kleines Tal. Ich hoffe, Sie werden irgendwann Gelegenheit haben, das Burgverlies zu besichtigen, das direkt in den Fels unter der Burg gehauen wurde, sowie die Hexenhöhle, sofern Sie nicht unter Klaustrophobie leiden. Bedauerlicherweise müssen diese Stationen heute ausfallen.« Ein lautes Stöhnen ging durch den Bus. Der Führer sprach weiter. »Es tut mir sehr leid, aber ich habe Sie vor Verspätungen gewarnt. Sie können sich bei Ihrem Reiseveranstalter beschweren, wenn wir zurück in Dublin sind. Vielleicht wird man Ihnen einen Teil des Fahrpreises zurückerstatten oder anbieten, die Besichtigung zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen. Trotz des großen Menschenandrangs ist Blarney Castle auf jeden Fall einen Besuch wert.« Er sah Marcy grimmig an, als wollte er sie schon im Voraus für die Trinkgelder verantwortlich machen, die ihm ihretwegen entgehen würden. Etliche Köpfe drehten sich ungehalten in ihre Richtung.
    »Es tut mir wirklich sehr leid«, flüsterte sie und drehte sich zum Fenster, aus dem ihr eigenes Spiegelbild zurückstarrte. Sie hatte früher einmal als hübsch gegolten, dachte sie und fragte sich, seit wann sie so erschöpft und alt aussah. Die Leute versicherten ihr ständig, dass sie mindestens zehn Jahre jünger aussah, als sie war, und vielleicht hatte das auch irgendwann mal gestimmt. Vorher, dachte Marcy. Bevor sich ihr Leben für immer verändert hatte. Vor jenem furchtbaren Oktobernachmittag, an dem sie beobachtet hatte, wie ein Polizeiwagen vor ihrem geräumigen Bungalow in Hogg’s Hollow gehalten hatte und zwei Beamte langsam auf die Haustür zugekommen waren. Beim Anblick ihrer steifen blauen Uniformen hatte ihr Atem schmerzhaft gestockt.
    Sie hatte Uniformen immer gehasst.
    »Willst du nicht aufmachen?«, hatte Peter gerufen, als es klingelte. Er saß vor dem Fernseher und guckte irgendein Sportereignis. »Marcy«, rief er noch einmal, als es ein zweites und drittes Mal klingelte. »Wo bist du? Warum machst du nicht auf?«
    »Es ist die Polizei«, brachte Marcy krächzend heraus. Ihr fehlte die Kraft, ihre mit einem Mal bleischweren Füße voreinanderzusetzen. Sie war plötzlich wieder fünfzehn Jahre alt und stand neben ihrer Schwester
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