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Herzschlagzeilen

Herzschlagzeilen

Titel: Herzschlagzeilen
Autoren: Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG
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ihr. Ruth, wie sie daliegt, in dem offenen Sarg.
    Sie war so fremd, so anders.
    Sie hatten sie geschminkt, hatten versucht, den tiefroten Streifen, der irgendwo auf ihrer Stirn begann und erst am Hals endete, abzudecken. Es war ihnen nicht gelungen. Die rote Spur führte über das ganze Gesicht.
    Ich kneife die Augen noch fester zu, aber ich sehe immer nur Ruths schlecht geschminktes Gesicht, umrahmt von ihren kurzen dunklen Haaren.
    Und dann schlossen sie den Sarg, und meine Mutter neben mir fiel lautlos zu Boden, und rückblickend denke ich, dass sie in diesem Moment ebenfalls aufhörte zu leben und anfing, nur noch zu existieren.
    Als ich die Augen wieder öffne, wundere ich mich, wie hell es in meinem Zimmer ist. Ich brauche eine Weile, um in Raum und Zeit zurückzufinden.
    Im Bestattungsinstitut war es nicht hell. Dort war es schummrig. Kerzen brannten, aus einer Wasserschale strömte blumiger Duft und aus einer Ecke tönte leise Musik.
    Im Bestattungsinstitut hörte meine Welt auf, sich zu drehen, und die Blumen verdorrten.
    Mein Blick fällt wieder auf den Skizzenblock. Ich denke an all das Leben, das ich darin festgehalten habe. In einer Zeit, in der ich selbst noch lebendig war.
    Ob ich es noch kann?
    Du wirst es nur herausfinden, wenn du es ausprobierst, flüstert die Stimme in mir.
    Ich lausche. Seit Ruths Tod ist es so schrecklich still geworden in diesem Haus. Mir fehlt ihre Musik, ihr lautes Lachen, mir fehlen die Stimmen ihrer Freunde, die hier ein und aus gingen.
    Mir fehlen die Gespräche mit ihr und meiner Mutter, mir fehlen die Witze meines Vaters. Mir fehlen die endlosen Diskussionen, die er mit Ruth über Physik führen konnte. Ruth war ganz vernarrt in alles, was mit Zahlen zu tun hatte, und mein Vater hat sie dafür geliebt. Ich kann mit Zahlen nichts anfangen. Und seit Ruth tot ist, kann mein Vater mit mir nichts mehr anfangen.
    Mir fehlt die Unordnung, die sie immer im Bad hinterlassen hat, mir fehlt sogar ihre Angewohnheit, mich regelmäßig um Geld anzupumpen.
    Ich schiebe die Bettdecke zur Seite und stehe auf. Wie in Zeitlupe bewege ich mich auf meinen Schreibtisch zu. Ich kann mit Zahlen nichts anfangen, aber ich konnte einmal zeichnen.
    Du konntest sogar mal ziemlich gut zeichnen.
    Ich greife nach dem Skizzenblock und öffne ihn langsam. Dann nehme ich einen Bleistift vom Tisch. Plötzlich bin ich ganz aufgeregt. Wie von selbst gleitet meine Hand über das Papier, wenige Striche nur, ein paar Schattierungen. Mein Herz schlägt schneller. Ich fühle fast so etwas wie Freude. Und das ist ziemlich viel für jemanden, der vor einem Jahr eigentlich aufgehört hat, überhaupt noch irgendetwas zu fühlen. Zumindest irgendetwas anderes als Angst.
    Für einen Moment halte ich inne und frage mich, was ich da eigentlich tue. Ein Gesicht starrt mir von dem weißen Blatt entgegen. Mein Gesicht? Da fällt mein Blick auf den Papierkorb, in den ich die abgeschnittenen Haare geworfen habe, und ich muss wieder an Leon denken und daran, wie er mich angesehen hat, als er meine Wange berührte, und da weiß ich, ich muss es einfach ausprobieren. Ich muss wissen, ob ich es wirklich noch kann. Ich muss wissen, wie viel von mir noch übrig ist, nachdem ich seit einem Jahr damit beschäftigt bin, mich verschwinden zu lassen. Und ich weiß auch schon, wo ich es herausfinden will. Es gibt einen Ort in dieser Stadt, an dem ich das Zeichnen erst richtig gelernt habe. Einen Platz, an dem ich alles finde, was ich für meinen Versuch brauche.
    Ich hole mir in der Küche eine Flasche Wasser und verstaue sie in meinem Rucksack. Einen Zettel, wohin ich fahre, schreibe ich meinen Eltern nicht, sie würden es ohnehin nicht verstehen. Das müssen sie auch nicht. Es reicht, dass ich mir meiner Sache auf einmal ganz sicher bin. Ich nehme den Skizzenblock und die Mappe mit den Stiften vom Schreibtisch und packe sie ebenfalls ein.
    Ein Blatt fällt dabei zu Boden. Ich mache einen Schritt zur Seite und lasse es einfach liegen.
    J ohanna, träumst du wieder?«
    Meine Mutter.
    Erschrocken schlug ich die nächsten Töne an.
    Meine Finger stolperten über die Tasten wie Fremde, die einander zum ersten Mal trafen. Nur die glänzenden Stellen auf dem sonst glatten Elfenbein verrieten die beinahe tägliche Begegnung. Jetzt verirrten sie sich unter all den Noten, fanden ihren Takt nicht zwischen der Zeit, die heute so quälend langsam verstrich, und meinem Herzen, das viel zu schnell klopfte.
    Sehnsüchtig schielte ich auf die Uhr über
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