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Herzschlagzeilen

Herzschlagzeilen

Titel: Herzschlagzeilen
Autoren: Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG
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dem Kamin. Endlich. Endlich schlug sie fünfmal und erlöste mich.
    Ich ließ den Klavierdeckel krachend zuschlagen und sprang auf.
    »Johanna!«, rief Mama empört, aber da war ich schon auf dem Weg in mein Zimmer. Ich zerrte die Schleifen aus meinem Haar und fing an, die Zöpfe zu lösen. Meine Hände zitterten. Ich atmete tief durch. Zwang mich zur Ruhe.
    Er ist nichts weiter als ein Freund aus Kindertagen, ermahnte ich mich selbst, aber mein Herz ließ sich nicht überlisten.
    Ich bürstete meine Haare so kräftig, dass es ziepte.
    »Deine Haare sind so weich wie das Fell einer Katze«, sagte Papa oft, wenn er mir über den Kopf strich. Heute sollten sie nicht nur so weich sein, sondern auch glänzen wie das Fell einer Katze.
    Papa würde das gefallen. Und ich hoffte, dass es Leonard auch gefiel.
    Meine Wangen glühten vor Eifer. Als ich einen Blick in den Spiegel warf, bemerkte ich, dass meine Augen leuchteten.

Ich war lange nicht mehr hier.
    Ich konnte nicht.
    Auch wenn es nicht der Friedhof ist, auf dem sie Ruth beerdigt haben, ist es eben doch ein Friedhof.
    Und ein riesiger Park. Ein Park voller Bäume, Blumen, alter Grabsteine und verschlungener Wege.
    Früher war ich oft hier, um zeichnen zu üben. Früher …
    Ich kette mein Fahrrad an einen Laternenpfahl und schnappe meinen Rucksack. Die Luft über dem Asphalt flimmert in der Hitze. Die Bilder verschwimmen vor meinen Augen. Für einen Moment sehe ich wieder das offene Grab, fühle das Beben meiner Mutter an meiner Seite. Mein Vater steht neben ihr, seine Schultern zucken. Leon hat die Fäuste in seinen Taschen vergraben, meine Hände öffnen und schließen sich. Immer wieder. So als ob sie Halt suchen, den sie nicht finden. Fast glaube ich, die Stimme des Pfarrers zu vernehmen, gleichmäßiges eintöniges Gemurmel, dem ich nicht zuhören kann, weil nichts von dem, was er sagt, irgendetwas mit meiner Schwester zu tun hat … Plötzlich rast ein Auto an mir vorbei, ich springe zur Seite, fluche leise und die Welt dreht sich wieder.
    Was mache ich hier? Warum musste ich ausgerechnet zu einem Friedhof fahren?
    Weil du eigentlich hierhergehörst , flüstert die Stimme in mir.
    Ich beeile mich, von der Straße runterzukommen, und biege in einen der Kieswege ab, die tief ins Innere des Parks führen. Die Grabsteine rechts und links ignoriere ich heute. Ich will keine Gräber zeichnen, sondern Blumen. Pflanzen, Bäume vielleicht. Etwas, das lebt.
    Der Kies knirscht unter meinen Füßen und das Geräusch lässt mich frieren. Ich sehe den Sarg, sehe die weißen Ro sen, die auf seinem Deckel liegen, und unter dem Deckel liegt Ruth, meine Schwester, und schläft, während wir hin ter ihr her über den Kies gehen, der sich anfühlt wie dünnes Eis, das jederzeit brechen kann.
    Ich laufe schneller, will diesem Geräusch entkommen, will den Kies unter meinen Füßen nicht mehr hören. Wei ter hinten enden die Wege, dort, wo der ganz alte Teil des Friedhofs liegt, wo die Gräber nicht mehr gepflegt und die Pflanzen sich selbst überlassen sind.
    Erleichtert atme ich auf, als ich weiches Moos unter mei nen Füßen spüre. Die Bäume hier sind alt, sie sind so hoch, dass ich den Kopf in den Nacken legen müsste, um den Himmel zu sehen. Es ist kühler hier, dunkler, die Bäume spenden Schatten in der Mittagshitze.
    Erst jetzt merke ich, wie durstig ich bin. Ich hole die Wasserflasche aus meinem Rucksack, trinke einen großen Schluck, fahre mir mit der Hand über das Gesicht und über die Haare. Für eine Sekunde stutze ich, dass sie so kurz sind, dann fällt es mir wieder ein. Ich weiß nicht, ob es Trä nen oder Schweißtropfen sind, die mir über die Wangen laufen. Ich wische sie weg und schaue mich suchend um. Was soll ich zeichnen? Womit fange ich an?
    Ich streiche sacht über die Rinde eines Baumes und vor meinem inneren Auge entsteht ein Bild aus rauen Stäm men, knorrigen Ästen. Dieser Baum ist noch zu glatt, ich lasse meine Hand sinken und gehe langsam weiter, auf der Suche nach etwas anderem.
    Im Schatten der dichten Baumkronen wachsen kaum Blu men, dafür rankt Efeu über die verwitterten, umgestürzten Grabsteine. Der Rhododendron ist bereits verblüht, die wenigen hohen Gräser sind vertrocknet, es hat seit Tagen nicht mehr geregnet. Irgendwo zwitschern ein paar Vögel, die in den Bäumen völlig ungestört ihre Nester bauen.
    Ich frage mich, warum ich nicht schon früher hergekom men bin. Es fühlt sich an, als hätte dieser Ort die ganze Zeit nur auf mich
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