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Herzschlagzeilen

Herzschlagzeilen

Titel: Herzschlagzeilen
Autoren: Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG
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uns zu. Ich erwarte nicht, dass sie mich versteht.
    »Ich komme nicht mit. Fahrt allein. Bitte«, füge ich leise hinzu, als ich die Enttäuschung in ihren Augen sehe.
    Dann nickt sie und fasst Leon am Arm. Sie wenden sich ab und lassen mich stehen.
    Ich sehe ihnen nach. Leon dreht sich nicht mehr zu mir um. Erst jetzt merke ich, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten habe.
    Ich renne zurück ins Haus, Tränen laufen mir über das Gesicht, ich will in mein Zimmer, will nur noch allein sein. Mir ist kalt, so entsetzlich kalt.
    Ich schließe die Tür, schaue mich in meinem Zimmer um, suche nach irgendetwas, an dem ich mich festhalten kann, bevor ich erfriere. Da fällt mein Blick auf den Skizzenblock. Die Ledermappe mit den Stiften liegt daneben. Ich gehe zum Schreibtisch, streiche zärtlich über das Leder. Mein Vater hat mir die Sachen geschenkt. In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben.
    Seit einem Jahr habe ich nicht mehr gezeichnet. Trotzdem habe ich es nicht übers Herz gebracht, die Sachen in die Schublade zu räumen.
    Behutsam öffne ich den Block und blättere durch die Seiten. Ich sehe Skizzen von Blumen, von Bäumen, vereinzelt auch Gesichter. Aber hauptsächlich habe ich Pflanzen gezeichnet. Tränen tropfen auf das Papier, schnell wische ich mir mit dem Ärmel übers Gesicht. Ich klappe den Block wieder zu und schiebe ihn von mir weg. Und mit ihm die Bilder aus meinem alten Leben.
    Ich lege mich auf mein Bett und schließe die Augen.
    Ich versuche mich zu erinnern.
    Heute vor einem Jahr.
    Die Party war gar nicht so toll. Es gab eigentlich gar keinen Grund, länger zu bleiben.
    Doch, den gab es, wispert es in meinem Kopf. Nico. Nico war der Grund, warum du den Bus verpasst hast. Nico. Ich schluchze auf. Befehle der Stimme in mir, endlich still zu sein. Nico ist kein guter Grund.
    Ja, ich war verliebt in ihn. Das schon. Ich war stolz darauf, mit ihm zusammen zu sein. Es war, als ob ich erst an seiner Seite wirklich wahrgenommen wurde. Vorher war ich irgendjemand, jetzt war ich Nicos Freundin. Das war neu für mich.
    Ich hatte mich lange auf die Party gefreut, hatte mir extra viel Mühe gegeben, mich hübsch zu machen, wollte, dass dieser Abend für uns etwas ganz Besonderes wird. Anfangs lief auch alles gut. Nico und ich tanzten ein paarmal, dann gingen wir zu den anderen in die Küche, um eine Kleinigkeit zu essen und uns etwas zu trinken zu holen. Irgendwann musste ich aufs Klo, und als ich in die Küche zurückkam, war Nico spurlos verschwunden. Ich suchte ihn eine ganze Weile, fragte ein paar Leute, aber niemand wusste, wo er abgeblieben war.
    Und dann sah ich ihn mit Lynn.
    Lynn war betrunken und Nico auch. Ich schlich hinter den beiden her in den Garten und beobachtete, wie sie sich küssten. Ich dachte, der Boden würde sich unter mir auftun und mich einfach verschlingen. Aber das geschah nicht. Stattdessen entdeckte Nico mich. Ich wollte etwas sagen, aber ich stammelte nur hilfloses Zeug. Und Nico? Der sah kein bisschen schuldbewusst aus. Eher verächtlich. Als ich endlich ein »Warum« herausbrachte, zuckte er nur mit den Schultern.
    »Stell dich nicht so an«, sagte er. »War doch klar, dass das mit uns nichts Ernstes ist.« Dann lachte er laut und schob seine Hand in Lynns Ausschnitt. Lynn kicherte hysterisch. Und ich lief davon. Verkroch mich irgendwo im Haus, wollte niemanden sehen und niemanden hören. Stell dich nicht so an! Nichts Ernstes!
    Und dann habe ich den Bus verpasst.
    Ruth seufzte am Telefon, als ich sie anrief. »Bleib, wo du bist. Ich hol dich!« Es war doch Ruth? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich erinnere mich an Nico, an seine Verachtung und daran, dass ich den Bus verpasst habe. Ruth wollte mich holen.
    Eine halbe Stunde später war sie tot.
    Es war nicht Nico!, fauche ich die Stimme in mir an. Ein betrunkener Junge, der einem fremden Mädchen seine Hände in den Ausschnitt steckt, konnte unmöglich der Grund für den Tod meiner Schwester sein.
    Ich versuche, hinter geschlossenen Lidern ihr Gesicht zu sehen. Ruths Gesicht, so wie es früher war. Ruth, wie sie lachte, wenn sie einen Witz aus der Schule erzählte, Ruth, deren Augen zornig blitzten, wenn sie irgendwo Unrecht witterte. Aber es gelingt mir nicht.
    Alles, was ich sehe in meiner Dunkelheit, sind ihre geschlossenen Augen. Ihr blasses Gesicht, fast durchsichtig.
    Seit einem Jahr suche ich in meinem Kopf nach Bildern von meiner Schwester, und alles, was ich finde, ist immer wieder nur dieses eine Bild von
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